Drachenwege
Familie ein neues Quartier zu beanspruchen. »Es gibt jede Menge Leute in diesem Camp, die den Platz besser nutzen könnten.«
»Und dann sind da noch die Erinnerungen«, sagte
Meister Zist leise, als spräche er zu sich selbst. »Es ist nicht gut, an einem Ort zu verweilen, der einen an glücklichere Zeiten erinnert.«
»Nun ja ...«, hob Natalon bedächtig an.
»Ich könnte mit meiner Familie in das Cottage ziehen«, sagte Tarik in die eintretende Stille hinein. Mit einem Blick auf Natalon fügte er hinzu: »Bei dir stellt sich demnächst Nachwuchs ein, und wenn wir weiterhin bei euch wohnen bleiben, könnte es ziemlich eng werden.«
»Nun ja«, wiederholte Natalon, »wenn Kindan nichts dagegen hat.«
»Die Entscheidung liegt nicht bei ihm«, trumpfte
Tarik auf. »Und sowie es wieder Fäden regnet, muss die Hütte ohnehin aufgegeben werden.«
Kindan war empört, wie rücksichtslos Tarik mit ihm umsprang.
»Das beantwortet aber noch nicht die Frage, wo der Junge in Zukunft wohnen soll«, bemerkte Meister Zist, ohne auf Tariks Einwand einzugehen.
»Er kommt halt in eine Pflegefamilie, zu Leuten, die ein zusätzliches Maul stopfen können«, brummte Tarik.
»Vielleicht nimmt Norla ihn auf.«
Norla war Zenors Mutter. Kindan mochte sie sehr
gern, doch in dieser Familie gab es viele Töchter, mit denen er so recht nichts anzufangen wusste und die ihm eher lästig waren. Aber wenn er bei ihnen lebte, wäre er mit Zenor zusammen, und die Aussicht darauf behagte ihm. Doch dann kam ihm ein ernüchternder Gedanke.
Zenor arbeitete jetzt im Bergwerk, während er selbst noch bei Meister Zist zur Schule ging. Von nun an
betrachtete man Zenor als einen Erwachsenen und
behandelte ihn dementsprechend, er hingegen blieb
nach wie vor ein Kind. Dieser Umstand würde die beiden Freunde notgedrungen voneinander entfremden.
Nein, vielleicht war es doch keine gute Idee, wenn er zu Norla zöge. Außerdem hatte er keine Lust, der große Bruder von vier kleinen Mädchen zu werden, von denen eines noch Windeln trug.
»Er sollte in eine Familie kommen, die die wenigsten Kinder hat«, meinte Natalon und berief sich damit auf die bewährten Regeln, nach denen man Pflegefamilien aussuchte. »Die Zieheltern müssten Erfahrung im Umgang mit Kindern haben, aber es darf auf keinen Fall geschehen, dass sie ein neues Familienmitglied als Bürde empfinden.«
Er hob den Kopf und sah Meister Zist direkt in die Augen.
Der Harfner setzte sich kerzengerade hin und machte aus seiner Verblüffung kein Hehl. Mit dieser Entwicklung der Ereignisse hatte er eindeutig nicht gerechnet.
Tariks Augen glänzten. »Du würdest für den Jungen
viel Verständnis aufbringen, Meister Zist. Denn du hast am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, einen gro-
ßen Kummer zu haben.«
Meister Zist sah Tarik aus leicht zusammengekniffenen Augen an. Kindan war dem Gespräch mit wachsender Spannung gefolgt, und nun erkannte er ganz
deutlich, dass Tarik nicht die geringsten Skrupel kannte, vom Leid anderer Menschen zu profitieren. Er spürte, welche Mühe es Meister Zist kostete, nicht die Be-herrschung zu verlieren, und aus Solidarität mit dem Harfner funkelte er Tarik empört an. Der lehnte sich entspannt auf seinem Stuhl zurück, ließ die wütenden Blicke von sich abprallen und lächelte verstohlen.
»Ich weiß nicht, ob ...«, sprachen Meister Zist und Kindan gleichzeitig. Beide verstummten und sahen einander verlegen an.
Natalon stand auf, und damit war die Unterredung
beendet. »Ich denke, es ist die ideale Lösung, Meister Zist. Kindan, bitte jemanden, deine Sachen und ein Bett in Meister Zists Hütte zu bringen. Du darfst jeden um Hilfe ersuchen, und berufe dich dabei auf mich.«
»Keine Sorge, ich finde schon jemanden, der das
Zeug schleppt«, warf Tarik ein, und sein Lächeln zog sich in die Breite. Er hielt es nicht mehr für nötig, seine Zufriedenheit zu verbergen. »Wenn es dir Recht ist, Natalon, dann beginne ich noch heute mit meinem Umzug.«
*
Am Ende halfen Swanee, der Magazinverwalter des
Camps, und Ima, der Metzger, Kindans persönliche
Habe zu transportieren.
»Wenn man das Bettgestell auseinandernimmt, kann
man die einzelnen Teile leicht tragen«, riet Swanee Kindan, der die Matratze zusammenrollte und auf seine Schultern hievte. Der Magazinverwalter klopfte mit der Hand gegen das Gestell. »Das ist gutes Holz«, meinte er anerkennend. »Zuerst trägst du den Lattenrost in dein neues Heim, und dann kommst du den Rest
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