Drachenwege
aufforderte, sich einen Nachschlag zu nehmen. Meister Zist hingegen nahm sich viel Zeit mit dem Essen und schien jeden Happen gründlich durchzu-kauen. Als er endlich fertig war, zappelte Kindan vor lauter Nervosität auf seinem Stuhl.
»Möchtest du einen Nachtisch?«, erkundigte sich
Meister Zist.
»Ja, sicher«, begann Kindan zögernd, dann platzte er heraus: »Aber dürfte ich mir vorher noch einen kleinen Nachschlag holen?«
Der Meisterharfner deutete auf den Kessel. »Hier sitzen nur wir beide, Kindan. Nimm dir, soviel du willst.«
Während Kindan seinen Teller bis zum Rand füllte,
betrachtete Zist den Jungen mit nachdenklicher Miene.
Als er sich dann wieder an den Tisch setzte, sagte er:
»Wenn wir allein sind, Kindan, dann darfst du dir
immer einen Nachschlag holen. Du brauchst mich nur zu fragen, denn ich lege Wert auf gute Manieren.«
Kindan, der mit vollen Backen kaute, lächelte selig und nickte.
»Du hattest viele Geschwister, die allesamt älter waren als du, nicht wahr?«
Abermals nickte Kindan.
Meister Zist seufzte. »In meiner Familie war ich das älteste Kind. Deshalb kann ich mich schlecht in deine Situation hineinversetzen. Aber ich könnte mir
vorstellen, dass du immer der Letzte warst, der sich eine zweite Portion holen durfte ... oder den Nachtisch.«
»Ach, so schlimm war das gar nicht«, erwiderte Kindan. »Sis, meine große Schwester, sorgte schon dafür, dass ich nie hungrig vom Tisch aufstand.« Dann zog er eine Grimasse. »Aber mein Bruder Kaylek versuchte immer, meinen Nachtisch zu stibitzen - das heißt, falls wir einen hatten.« Sein Gesicht nahm einen ernsten, in sich gekehrten Ausdruck an.
»Mit Kaylek kamst du wohl nicht besonders gut aus, nicht wahr?«, hakte Meister Zist freundlich nach.
»Das stimmt«, räumte Kindan ein. »Aber dann erzählte mir mein Freund Zenor, dass Kaylek ihm bei dem Grubenunglück das Leben gerettet hat.« In Kindans
Augen schimmerten Tränen. »Zu mir war Kaylek immer gemein, aber er opferte sein Leben, um Zenor zu
retten.«
»Solche Dinge sind manchmal schwer zu verstehen«,
meinte der Harfner. »Ich habe schon öfter derlei Über-raschungen erlebt. Menschen, denen man nie etwas
Gutes zutraute, haben sich dann in kritischen Situationen als wahre Helden entpuppt, indem sie selbstlos anderen halfen.«
Kindan nickte.
»Sag mal, Kindan«, fuhr Meister Zist fort, »ist dir überhaupt bewusst, welche Pflichten und Aufgaben ein Harfner erfüllen muss?«
»Ein Harfner gibt Schulunterricht, und bei festlichen Anlässen singt er Lieder. Die meisten Harfner beherrschen mehrere Musikinstrumente.« Erwartungsvoll sah Kindan Meister Zist an, denn er war sich nicht sicher, ob seine Antwort vollständig war.
Der Meister nickte. »Richtig. Aber das ist noch längst nicht alles. Außerdem sammeln die Harfner Informationen und geben sie weiter. Wir dienen als Bewahrer und Hüter von Wissen. Und wir helfen den Heilern.«
»Meine Schwester verstand sich aufs Heilen«, warf
Kindan ein.
Zist nickte. »Obendrein versuchen wir, Probleme zu lösen.«
Kindan blickte verständnislos drein. Meister Zist
seufzte. »Wir hören jedem zu, der uns etwas zu
berichten hat, und wenn wir glauben, dieser Mensch benötigt Hilfe, greifen wir ein.«
Kindan versuchte, sich den Anschein zu geben, als
verstünde er das Gesagte. Er hatte seinen Teller leerge-gessen, und nun lief ihm beim Gedanken an die Nach-speise das Wasser im Mund zusammen. Doch er wusste, dass Meister Zist weitersprechen und nicht eher Ruhe geben würde, bis er glaubte, Kindan hätte begrif-fen, was er meinte.
Nun deutete der Harfner ein Lächeln an. »Wir werden darauf geschult, gute Beobachter zu sein. Natürlich können wir keine Gedanken lesen, aber mit der Zeit lernt man, aus gewissen Zeichen zu erkennen, wo einen Menschen der Schuh drückt.« Unvermittelt stand er auf, räumte Kindans Teller ab und servierte dann die Leckereien, die die Bäckerin ihnen geschickt hatte.
»Ein Harfner muss nicht nur lernen, Wissen weiter—
zugeben und für eine musikalische Unterhaltung zu
sorgen, sondern er wird auch darin ausgebildet, Menschen zu beobachten und sich ihre Sorgen und Küm—
mernisse anzuhören«, fuhr der Meister fort, nachdem er in ein Stück Gebäck gebissen hatte.
Kindan nickte nur, weil er mit vollem Mund nicht
sprechen konnte.
»Aber da wäre noch etwas!«, ergänzte Meister Zist
mit wichtiger Miene. »Ein Harfner wird regelrecht darauf getrimmt, ein Geheimnis für sich zu
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