Drachenzauber
wahrscheinlich, dachte Tisala.
»Ich tue, was man mir aufträgt, Junge. Ich bin der Folterknecht des Königs.« Der alte Mann war so aufgeregt, dass er mit dem Messer abrutschte. Blut schoss über ihren Arm und seine Hand.
Der Junge sah das, schluckte angestrengt, drehte sich dann um und rannte davon. Er warf die schwere Holztür hinter sich zu. Erbost starrte der alte Mann ihm hinterher und verfluchte die Mutter, die ihren Jungen zu einem solchen Schwächling erzogen hatte.
Tisala konnte kaum glauben, dass der alte Meister so dumm war, aber er blieb weiterhin der Tür zuge-wandt, das Messer in der vom Blut glitschigen Hand - so dicht an ihrer eigenen Hand, die er in seinem nun eher unaufmerksamen Griff hielt.
Tisala wartete nie auf eine zweite Gelegenheit.
Sie drehte das Handgelenk, brach seinen Griff und riss die Schulter nach vorn. Dann packte sie die Hand mit dem Messer und benutzte sie, um dem alten Mann die Kehle durchzuschneiden.
Sie war immer noch an die Bank gebunden, auf der sie lag, und konnte den alten Mann weder langsam zu Boden sinken lassen noch dem Blut ausweichen, das aus seiner Wunde sprudelte. Aber sie hielt seine Hand weiter fest, obwohl ihre eigene so grausig verwundet war. Sobald die Leiche schlaff wurde, bewegte sie ihre Hand langsam von der des Folterknechts zum Messer.
Einen schrecklichen Augenblick befürchtete sie, das Messer werde ihrem schwachen Griff entgleiten und sie an den Tisch gebunden bleiben. Aber als der Arm des alten Mannes hinunterrutschte, hielt sie das Messer immer noch umfasst.
Es war klein, doch scharf genug, um die Seile ebenso problemlos zu durchtrennen wie zuvor ihre Haut. Es fiel ihr schwer, sich zu bewegen, sie war zu lange gefesselt gewesen und schwach von dem Schock und den Dingen, die man ihr angetan hatte.
Sie ignorierte ihre Schmerzen so gut sie konnte und fand einen Lappen, den sie um ihre Hand wickelte.
Niemand kam hereingestürzt, alarmiert von dem Geräusch des Aufpralls der Leiche. Tisalas Hoffnung wuchs, und sie ging die Möglichkeiten durch.
Der Junge hatte gesagt, sie seien nicht in der Burg, aber sie verließ sich auf nichts, was sie an einem solchen Ort hörte. Falls die beiden gelogen hatten, konnte sie sich ebenso gut gleich selbst die Kehle durchschneiden. Sie war kaum in der Verfassung, unbemerkt durch die königlichen Hallen zu schleichen. Aber vielleicht hatte der Junge ja recht gehabt.
Die Hoffnung auf Flucht ließ sie den behelfsmäßi-gen Verband an ihrer Hand ungeschickt fester binden.
Wohin konnte sie gehen? Sie musste die richtige Entscheidung treffen, aber ihre Gedanken flossen träge wie Schlamm.
Sie hatte Freunde hier in Estian, die sie verstecken würden.
Aber wenn jemand ihr durch die Stadt folgte - und das war bei ihrem Zustand durchaus möglich -, würde sie damit ihre Freunde zum Tode verurteilen.
Sie konnte es sich auch nicht leisten, nach Hause zu rennen, nach Callis in Oranstein. Wenn sie jetzt dorthin ginge, würde sie damit das Todesurteil ihres Vaters unterzeichnen. Ihre öffentliche Entfremdung voneinander, vorgeblich, weil sie genug davon hatte, dass ihr Vater sich an seinen Treueid gegenüber dem König hielt, war das Einzige, was ihn aus Jakovens Zellen heraushielt. Wenn er sähe, was Jakovens Leute ihr angetan hatten, würde er seinen eigenen Krieg anfangen - doch der richtige Zeitpunkt war noch nicht gekommen.
Sie zwang sich, die Situation, in der sie sich befand, weiter zu durchdenken. Denke nach, Tisala.
Fünf Königreiche unter Jakovens Herrschaft - es gibt doch sicher irgendwo einen Ort, an dem du dich verstecken kannst.
Außerhalb der Stadt Estian befand sich Tallven fest in den Händen des Hochkönigs Jakoven, dessen Familiennamen das Land trug. Tallven war Grasland, und es gab keine Berge, in denen man sich verstecken konnte. Im Süden lag Oranstein, wohin sie wegen ihres Vaters nicht gehen konnte.
Im Osten lag Avinhelle, und sie hatte dort Bekannte, aber vor vier Jahren hatte sich eine Gruppe avinhellischer Adliger zusammengetan, um die Königreiche zu verraten. Sie waren gefangen genommen und durch Strafgelder und Hinrichtungen gedemütigt worden, und die verbliebenen Adligen würden Tisala ausliefern, sobald sie sie erkannten, in der Hoffnung, damit ihre Loyalität zum Hochkönig zu demonstrieren.
Im Westen lag Seefurt, aber dort kannte sie nicht viele Leute. Seefurter waren Seeleute, und sie er-forschten die Meere und überließen die Politik den Landratten.
Im Norden … die Shavig-Leute
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