Drachenzauber
Oranstein bereits erklärt, dass der König ihnen nicht helfen würde. Er hatte versucht, ihnen darzulegen, dass sie alles noch schlimmer machen würden, wenn sie ihn bedrängten.
Aber sie hatten ihn ignoriert.
Haverness von Callis sah aus wie der alte Krieger, der er war. Er war der einzige Oransteiner bei Hof, der den Mut hatte, sein Haar noch so zu tragen, wie es vor der Rebellion in Oranstein Mode gewesen war: rasiert von der Schläfe bis zum Ohr, und überall sonst kurz geschnitten. Garranon wusste, dass Jakoven Haverness für einen geschlagenen Mann, für einen Versager hielt. Wenn Garranon stattdessen einen Helden vor sich sah, behielt er das lieber für sich.
Entschlossen wandte er seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zu. Der König ging seinen morgendlichen Pflichten in einem der größeren Empfangsräu-me nach. Die Tamerlain war an diesem Morgen hier, wie so oft; sie behauptete, es helfe gegen ihre Langeweile, nun, da Menogue verlassen war. Ihr golden und gelb gefleckter Körper wirkte beinahe schockie-rend in seinem Kontrast zu den dunklen Farben, in die die Adligen gekleidet waren. Sie war in Größe und Gestalt einem Bären ähnlich, aber graziler, wie eine riesige Waldkatze. Ihr Kopf war ebenfalls kat-zenhafter, mit beweglichen Zügen und scharfen wei-
ßen Reißzähnen. Sie wirkte so beeindruckend und gefährlich, wie man es von der Hüterin eines Tempels erwartete, und das Einzige, was nicht in dieses Bild zu passen schien, war der überlange flauschige Schwanz. Garranon fragte sich, wieso in diesen überfüllten Räumen noch nie jemand darauf getreten war
- immerhin hatte sie ihm schon vor Jahren versichert, dass er der Einzige war, der sie sehen konnte.
Ihr herrischer Blick traf den seinen über die Menge hinweg.
»Callis ist in arger Bedrängnis, Euer Majestät. Ihr müsst doch wissen, dass das keine gewöhnlichen Räuberbanden sind. Wenn sie Oranstein genommen haben, werden sie als Nächstes Tallven und Seefurt angreifen.« In Haverness’ Stimme lag eine leidenschaftliche Intensität, die Garranon zwang, seine Aufmerksamkeit einen Augenblick wieder dem alten General zuzuwenden. Als er erneut die Tamerlain beobachten wollte, war sie verschwunden.
»Wir sind vertraut mit den Ereignissen im Süden«, erklärte der König freundlich. »Aber wir sind auch vertraut mit den großartigen Fähigkeiten der Kämpfer von Oranstein. Ich wette …« Die vorgebliche Ehrlichkeit des Königs ließ Garranon einen Schauder über den Rücken laufen. Er achtete darauf, weiterhin eine ausdruckslose Miene zu wahren, denn es gab hier zu viele, die Jakovens zahmen Oransteiner sorgfältig beobachteten. »Ich wette, mit hundert Männern könntet Ihr die Banditen selbst vertreiben.«
Haverness kannte den König. Er verbeugte sich tief und wollte etwas sagen, als er unterbrochen wurde.
»Diese Wette nehme ich an«, sagte eine Stimme, die Garranon überraschte, denn er hatte den uneheli-chen Halbbruder des Königs zuvor nicht bei der Audienz bemerkt. Alizon Tallven schlenderte auf Haverness zu und tätschelte ihm den Rücken. »Obwohl ich lieber auf der Seite von Haverness stünde. Ich habe nämlich im letzten Krieg gegen ihn gekämpft.«
Alizon mochte aussehen wie ein Geck, aber er war schon mit zweiundzwanzig militärischer Berater und General seines Vaters gewesen.
Der König lehnte sich zurück. Der Kontrast zwischen den beiden Männern war verblüffend, besonders, da ihre Mütter Schwestern gewesen waren. Der König sah aus, wie ein Herrscher aussehen sollte: ausgeprägte Züge, graue Augen mit kühlem, abschätzendem Ausdruck. Er sah nicht besonders gut aus - nein, das wäre zu gewöhnlich gewesen. Er hatte eine schmale, aristokratische Nase, mit einem leichten Hubbel, wo sie einmal gebrochen war. Das lockige Haar - nun vollkommen grau - war, obwohl Garranon sich an Zeiten erinnern konnte, als es noch schokoladenbraun gewesen war - trug er militärisch kurz.
Alizon, der älteste der drei Söhne des letzten Königs, färbte sein Haar. Heute war es kastanienbraun, und es fiel ihm bis auf die Schultern. Er war hoch-gewachsen und wolfsschlank und bewegte sich mit seltsamer Anmut. Es war schwer, ihn sich an der Spitze eines Heeres vorzustellen. Er war von seinem offiziellen Posten zurückgetreten, als sein Halbbru der den Thron bestieg. Garranon nahm an, dass er aus diesem Grund dem Schicksal von Jakovens jün-gerem Bruder entgehen konnte, der sich im Asyl des Königs befand.
»Ihr wollt wetten, dass Haverness
Weitere Kostenlose Bücher