Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
bleibe hier. Die Entscheidung liegt bei dir. Doch ich hoffe von ganzem Herzen, dass du mir folgst.«
Ich erriet, was unausgesprochen mitschwang: dass er, wenn er wollte, seine hypnotischen Überredungskünste anstrengen könnte,
sich aber dagegen entschieden hatte. Ob es nun gut oder schlecht ausgehen würde, ich hatte meine Entscheidung getroffen. Ich
unterdrückte meine Ängste und ergriff die Hand, die er mir entgegengestreckt hatte. Ich hatte erwartet, dass er mich nun zur
Tür führen würde. Stattdessen hob er |297| mich zu meiner Überraschung mühelos auf die Arme und trug mich hinaus auf den inzwischen im Sternenschein liegenden Balkon.
»Halte dich gut fest.«
»Was machst du?«, fragte ich verwundert.
»Ich bringe dich nach Hause.«
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14
Plötzlich verspürte ich einen eisigen Windstoß und hatte das Gefühl, mich ungeheuer rasch zu bewegen. An meinen Augen sausten
farbige Bilder vorüber, und in den Ohren dröhnte mir ein wirbelndes Surren. Ehe ich mich’s versah, fand ich mich im Mondlicht
auf einer Veranda wieder, die hinter einem ungeheuer großen alten Steinhaus zu liegen schien, hinter unserem Nachbarhaus.
»Wie hast du das fertiggebracht?«, fragte ich verdutzt, als Dracula mich wieder auf die Füße stellte.
»Es ist ein ganz einfaches physikalisches Phänomen.« Zärtlich strich er mir eine Haarlocke aus der Stirn, die sich im Wind
gelöst hatte, und fügte hinzu: »Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.« 1
Ich musste mich an ihm festklammern, denn ich war noch sehr unstet auf den Beinen, und mir schwirrte der Kopf. »Aber wir standen
doch gerade eben noch auf einem Balkon im ersten Obergeschoss, und die Grundstücke sind durch eine hohe Mauer getrennt. Kannst
du etwa fliegen?«
Er lachte. »Als Mensch nicht. Aber ich kann hoch und weit springen und mich schneller bewegen, als es ein menschliches Auge
zu erkennen vermag. Allerdings kann ich dies nicht über weite Entfernungen; es zehrt doch sehr an meinen Kräften.«
|298| Ich schüttelte mich und bemühte mich noch verzweifelt, meine ungeheure Verwunderung zu überwinden, als er schon die Tür aufsperrte
und mich mit einer Handbewegung aufforderte, ins Haus einzutreten. Drinnen war es finster und sehr kalt. Während ich in der
feuchten Luft fröstelte, zündete er eine Kerze an. Im flackernden Lichtschein bemerkte ich, dass wir uns in einem großen und
leeren alten Vestibül befanden. Der Boden war mit einem dicken Staubteppich überzogen, und an den hohen Wänden hingen Spinnweben
wie feine Spitzen herab und waren ebenfalls dick mit Staub bedeckt.
»Bitte entschuldige den beklagenswerten Mangel an Sauberkeit und Ordnung. Das Haus ist sehr weitläufig und steht schon länger
leer.« Ich konnte kaum mit ihm Schritt halten, als er nun einige lange Treppen hinaufeilte. »Ich habe meine ganze Energie
darauf verwendet, ein bestimmtes Zimmer bewohnbar zu machen. Zum Glück haben die Männer es auf ihrer Suche gestern Abend anscheinend
nicht entdeckt.«
Wir erreichten das oberste Geschoss des Hauses. Auf halber Höhe des langen dunklen Korridors machte Dracula eine Handbewegung.
Daraufhin glitt ein Teil der holzgetäfelten Wand zur Seite.
»Willkommen in meinem Salon«, sagte er.
Wir traten ein. Ich erstarrte vor Staunen. Was immer ich im Obergeschoss dieses uralten, zum Teil aus dem Mittelalter stammenden
Herrenhauses erwartet hatte, dergleichen hatte ich mir nicht vorgestellt. Der Raum war warm, einladend und elegant mit Eichenholz
getäfelt. Lange dunkelrote Samtvorhänge verdeckten die Fenster. In mehreren hohen Leuchtern schimmerten Kerzen, die zusammen
mit zwei Gasleuchten das Zimmer mit einem weichen goldenen Licht erfüllten. Die Möbel und die dicken türkischen Teppiche wirkten
teuer und luxuriös. Am meisten überraschten mich jedoch die Bücherregale aus Eichenholz, die sich an zwei Wänden vom Boden
bis zur Decke erstreckten und zur Hälfte mit Büchern aller Art und aller Größen gefüllt waren. Im ganzen Zimmer verteilt |299| standen noch sehr viele offene Kisten mit weiteren Büchern, als würden sie gerade noch ausgepackt. Die Zahl der Bände schien
in die Zehntausende zu gehen.
»Es ist wohl eher eine Bibliothek als ein Salon«, sagte ich, wie vom Donner gerührt, während ich die Titel einiger Bücher
auf den Regalen betrachtete. Viele schienen sehr alt zu sein. Sie behandelten eine große Vielzahl von
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