Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
Konversation unbehaglich und gezwungen. Ich war in Gedanken versunken, und die Männer, die entschlossen
waren, den Fall Dracula nicht vor mir zu besprechen, mussten sich alle Mühe geben, bei unverfänglichen Themen zu verweilen.
Ich trug nun schon über eine Woche Trauer, im Gedenken an Herrn Hawkins, Lucy und Frau Westenra. In den zwei kurzen Wochen
in Exeter, nachdem Jonathan und ich aus Budapest zurückgekehrt waren, hatte ich nur Zeit gehabt, mir zwei neue Kleider schneidern
zu lassen. Heute trug ich eines davon, ein mit Glasperlen besticktes Abendkleid aus schwarzer Seide. Ich hatte mir das Haar
mit besonderer Sorgfalt zu einer Aufsteckfrisur arrangiert, die ich für außerordentlich vorteilhaft hielt. Während ich den
weichen Samt des Halsbandes mit der Diamantschließe betastete, das ich trug, um meine Wundmale zu verbergen, überlegte ich,
wie lieb es von Lucy gewesen war, mir einen so kostbaren Schatz zu vererben! Gleichzeitig fragte ich mich, ob sie irgendwie
gespürt hatte, dass ich das Halsband eines Tages aus dem gleichen Grund wie sie brauchen würde. Doch wenn dem so war, warum
hatte sie mich nicht vor ihm gewarnt? Hatte sie ihren eigenen Angreifer nicht als Herrn Wagner erkannt?
Nach dem Essen gab mir Jonathan einen Gutenachtkuss und schloss sich bei heruntergelassenen Jalousien mit den anderen in Dr.
Sewards Arbeitszimmer ein – um »zusammen zu rauchen«, wie sie behaupteten. Doch ich wusste, dass sie besprechen wollten, was
ihnen allen während des Tages begegnet war, und dass sie ihre Pläne für die Zukunft schmieden |293| wollten. Nachdem Jonathan mir in den vielen Jahren unserer Bekanntschaft stets alles anvertraut hatte, war es seltsam, dass
er nun plötzlich Geheimnisse vor mir hatte. Und doch: verbarg ich nicht auch einiges vor ihm?
Es war noch nicht neun Uhr. Da ich den größten Teil des Tages geschlafen hatte, war ich überhaupt nicht müde und hatte nicht
die Absicht, mich schon zu Bett zu begeben. Ich ging in mein Zimmer hinauf und wartete. Würde Dracula es wagen, jetzt zu kommen,
fragte ich mich, während unten die Männer Pläne schmiedeten? Eher würde er wohl warten, bis alle schliefen. Ich versteckte
das Fläschchen mit dem Weihwasser tief in meinem Mieder. Ich nahm ein Buch zur Hand, legte es aber gleich wieder weg, weil
ich zu erregt war, um lesen zu können. Ich zog die Gardinen auf und öffnete die hohe Verandatür. Dann trat ich auf den kleinen
Balkon mit dem schmiedeeisernen Geländer. Draußen war alles still. Der Nachthimmel war tintenblau, die Sterne verbargen sich
hinter dichten Wolken.
Ich stand gerade einige Minuten draußen auf dem Balkon, als ein Mondstrahl durch die Wolken brach und hell auf das Gras und
die Bäume fiel, mit denen der Garten unten gesäumt war. Ich bemerkte einige winzige graue Pünktchen, die in den Strahlen des
fernen Mondes schwebten. Sie sahen aus wie Sandpartikel oder Staubkörnchen und wirbelten und tanzten durch die Luft, ballten
sich zusammen und breiteten sich wieder aus, während sie mir ständig näher kamen.
Voller ängstlicher Erwartung begann mein Puls zu rasen. War es möglich? Konnte er es sein? Ich trat in mein Zimmer zurück.
Die Staubkörnchen tanzten weiter im Mondlicht, während sie näher kamen, wirbelten schneller und immer schneller, bis sie durch
das offene Fenster hereinwehten und nun wenige Fuß von mir entfernt eine schemenhafte Gestalt zu formen begannen. Im Nu verwandelte
sich diese Gestalt in den Mann selbst! Ich musste mich an ein Möbelstück klammern, um mich aufrecht halten zu können.
|294| »Sie sehen wunderschön aus«, sagte Dracula leise und fügte dann besorgt hinzu: »Ich hoffe, Sie sind wohlauf?«
»Ja.« Ich rang um Fassung und versuchte mit aller Kraft, mein hämmerndes Herz unter Kontrolle zu bekommen. Gleichzeitig war
ich finster entschlossen, die Angst zu verbergen, die mich ergriffen hatte. »Ich bin nur mit diesen plötzlichen und recht
dramatischen Auftritten nicht vertraut. Letzte Nacht war es ein Nebel, heute Nacht ein Staub?«
»Mir steht eine Vielzahl verschiedener Bewegungsmöglichkeiten zur Verfügung.« Er trat nah an mich heran und berührte das Samtband
an meinem Hals. »Ein Geschenk von Lucy?«
Diese Erwähnung meiner lieben, verstorbenen Freundin ließ mich sofort in Verteidigungsstellung gehen. Mit Bitterkeit in der
Stimme erwiderte ich: »Ja.«
»Es steht Ihnen gut.«
Brüsk sagte ich: »Wie sind Sie gestern Nacht hier
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