Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
war ein Fehler. Aber wenn man sie in Ruhe gelassen hätte, hätte sich ihr Blut mit der Zeit regeneriert. Sie hätte sich
von allein erholt. Einerseits verfluche ich die Tatsache, dass ich in London wieder zu ihr zurückgegangen bin, denn dieser
Besuch hat ja deine
Freunde
auf mich aufmerksam gemacht! Andererseits bin ich jedoch auch froh darüber«, meinte er, und seine Augen wanderten erneut zu
mir, schauten mich wieder ruhig und dunkel |311| an und zogen mich beinahe magnetisch zu ihm hin, »… denn es hat dich zu mir gebracht.«
Es war furchterregend, wie seine Laune von einer Sekunde zur anderen plötzlich umschlug. Und doch fiel mir das Denken schwer,
wenn er mich so ansah. »Du scheinst nicht zu bedauern, dass sie tot ist, vielmehr nur verärgert zu sein, dass es dir das Leben
so schwer gemacht hat.«
»Es tut mir leid, dass sie so jung gestorben ist und dass ihr Tod dir Schmerzen bereitet hat. Ich bedaure auch, dass van Helsings
Inkompetenz mich gezwungen hat, sie in einen Vampir zu verwandeln. Aber sterben müssen alle Menschen irgendwann. Ich habe
Lucy unsterblich gemacht.«
»Gestern hast du mir erklärt, du hättest Lucy auf ihre eigene Bitte hin zum Vampir gemacht. Wie kann das sein?«
»Als ich Lucy das nächste Mal erblickte, lag sie im Sterben. Sie war zu schwach, um sich vom Bett zu erheben oder auch nur
die Einladung auszusprechen, die ich benötigte, um ihr Haus betreten zu können. Ein Wolf, mit dem ich mich im Zoo angefreundet
hatte, folgte meinem Ruf und brach für mich durch das Fenster ein. Dann bat mich Lucy herein. Doch inzwischen war es für jede
Rettung zu spät. Sie wusste, was für ein Wesen ich war, und flehte mich an, sie in einen Vampir zu verwandeln. Ich versuchte,
sie davon zu abzubringen, aber sie hielt es für eine wünschenswerte Alternative zum Sterben.«
»So hat sie es in ihrem Tagebuch aber nicht erklärt. Lucy schrieb, dass sie durch das zerbrochene Fenster Staubkörnchen ins
Zimmer tanzen sah und dass sie das Gefühl hatte, jemand hätte sie mit einem Zauber gefesselt. Dann verlor sie das Bewusstsein.«
»Du kannst mich nicht für die Geschichten verantwortlich machen, die sie womöglich erfunden hat, um die Wahrheit zu vertuschen.«
Mir stieg die Röte in die Wangen, als mir bewusst wurde, wie treffend diese Worte waren. Auch ich hatte ja in der |312| Nacht zuvor in meinem Tagebuch ein Märchen erfunden, um zu verhindern, dass jemand die Wahrheit über Draculas Besuch erfuhr.
Und ich hatte, seit ich in Whitby mit meinem Tagebuch begonnen hatte, absichtlich jegliche Erwähnung von Herrn Wagner vermieden.
»Selbst wenn all das stimmt«, erwiderte ich ihm, »wie konntest du dich mit ihrem Wunsch einverstanden erklären, da du doch
wusstest, dass du sie zu einem Leben als Ungeheuer verdammtest – als abscheuliche Verführerin und Jägerin von Kindern!«
»Das hätte ich ihr abgewöhnen können! In all meinen Jahren als Untoter habe ich nur sehr wenige Geschöpfe meiner Art geschaffen,
Mina. Auf gar keinen Fall wollte ich einen ungestümen jungen Vampir auf London loslassen, ein Wesen, das voller ungezügelter
Begierden und Lust ist. Ich fürchtete, dies würde die Aufmerksamkeit auch auf mich lenken und meine eigene Sicherheit gefährden,
wie es ja dann geschehen ist. Aber nach allem, was vorgefallen war, fühlte ich mich … verantwortlich. Ich wollte Lucy warnen,
erklärte er, was für ein Leben sie erwarten würde. Ich versuchte, sie in jenen ersten, wichtigen Tagen nach der Verwandlung
anzuleiten und zu führen, doch Lucy war starrsinnig und hörte nicht auf meine Worte. Hätte ich mehr Zeit gehabt, hätte ich
mit ihr arbeiten können, dann, glaube ich, hätte sie es geschafft. Sie hätte gelernt, sich zu zügeln. Sie hätte das ewige
Leben genossen. Doch als ich zurückkehrte, fand ich in ihrem Grabmal nur noch ihre zerfleischten Überreste. So hatten van
Helsing und seine Gesellen sie zugerichtet.«
Nun strömten mir die Tränen über die Wangen. »Sie hatten keine andere Wahl! Sie haben sie so zugerichtet, um ihre Seele zu
retten! Um zu verhindern, dass sie …« Ich konnte nicht weitersprechen. Ich erhob mich vom Tisch und entfernte mich ein wenig,
um über den Verlust meiner lieben Freundin zu trauern. Dracula trat neben mich und reichte mir wortlos ein Taschentuch.
Während ich um Haltung rang, fragte ich mich wieder: |313| Sollte ich ihm vertrauen? Wie konnte ich sicher sein, dass er mir die Wahrheit
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