Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
mich, stundenlang mit ihm zu reiten, damit ich Augenzeuge seines letzten
Sieges würde. Während des Ritts übermannte mich der Schlaf. Als ich erwachte, sah ich zu meinem Entsetzen vor mir die Einwohner
einer ganzen Stadt, auf Pfähle gespießt, draußen vor ihrer eigenen Stadt … Tausende und Abertausende.«
»Großer Gott«, schrie ich entsetzt auf.
»Pfählen war nicht die einzige Foltermethode meines Bruders, wenn sie ihm auch die liebste war. Vom Brandschatzen und Begraben
bei lebendigem Leibe bis hin zum Strangulieren und jeder Art von Verstümmelung, die Liste seiner Foltermethoden liest sich
wie ein Register aller Werkzeuge der Hölle. Er behauptete, dies alles geschehe aus Rache für den |394| Tod unseres Vaters und unseres Bruders, doch die meisten seiner unglückseligen Opfer waren unsere eigenen Leute, Frauen, Kinder,
Bauern und große Herren gleichermaßen. Jeder, dessen Verhalten nicht in Vlads starre Moralvorstellungen passte oder den er
als Bedrohung für den Thron empfand.«
Mir war speiübel. Nicolae schaute mich zögernd an. »Ich habe dich gewarnt, dass es keine schöne Geschichte ist. Möchtest du,
dass ich weitererzähle?«
»Ja.«
Er stand auf und schritt beim Reden auf und ab. »Mit jedem Tag hasste ich meinen Bruder mehr; aber ich war jung, und meine
Mutter und Schwestern standen unter seinem Schutz, und er hatte sie in seiner Gewalt. Schließlich bestand er darauf, dass
ich wie ein echter Sohn des europäischen Adels ausgebildet würde. Das bedeutete, dass ich einen Erzieher bekam, der mir alle
Kriegstechniken beibrachte, die man damals für einen christlichen Fürsten als unerlässlich erachtete. Das Töten widersprach
meiner Natur. Wann immer Vlad vorbeikam, um beim Unterricht zuzuschauen, machte er sich über mich lustig, spottete, ich sollte
fester mit dem Schwert zurückschlagen, schalt mich einen verweichlichten Schwächling, den nutzlosen Dracula, der niemals irgendetwas
ausrichten würde. Ich strengte mich an und hatte nur ein einziges Ziel: Eines Tages würde ich stark und geschickt genug sein,
um mit meinem Bruder zu kämpfen und ihn zu töten.
Das Schicksal spielte mir jedoch einen Streich. Die Türken fielen in die Walachei ein. Damals war ich fünfzehn Jahre alt.
Vlad ließ uns im Stich und floh nach Transsilvanien, wo man ihn festnahm und einsperrte. Anstatt mich den Türken zu ergeben,
verhalf ich meiner Mutter und meinen Schwestern zur Flucht. Ich brachte sie sicher über die Berge nach Transsilvanien, in
die Fürstentümer, die früher unser Vater regiert hatte, und flehte den dortigen Herrscher um Beistand an. Meine Mutter und
Schwestern fanden bei ihm Zuflucht. Ich zog in |395| den Krieg gegen die Türken. Vierzehn Jahre lang kämpfte ich auf einem blutigen Schlachtfeld nach dem anderen für die Freiheit
unseres Heimatlandes.
Eines Tages kam mir zu Ohren, man hätte meinen Bruder aus der Gefangenschaft freigelassen und er hätte seinen Thron zurückgewonnen.
Erneut hob seine Schreckensherrschaft an. Als ich neunundzwanzig Jahre alt war, führte Vlad bei Bukarest ein Heer gegen die
Türken und forderte mich auf, mich ihm anzuschließen. Ich folgte seinem Ruf, Mordgelüste im Herzen. Aber es schien, als wäre
mir jemand zuvorgekommen und hätte ihn bereits vor meiner Ankunft getötet. Einigen Berichten zufolge hatten ihn ungetreue
Walachen ermordet, als er gerade die Türken in die Flucht schlagen wollte. Andere behaupteten, er sei bei der Niederlage gefallen,
umringt von seiner treuen moldauischen Leibwache. Mir kam sogar zu Ohren, die Türken hätten seinen Kopf nach Konstantinopel
geschickt, wo ihn der Sultan auf einem Pfahl ausstellen ließ, um zu beweisen, dass der böse Pfähler endlich tot war. Doch
in Wirklichkeit war mein Bruder nicht auf diesem Schlachtfeld gestorben. Diese Wahrheit habe ich jedoch erst einige Jahre
später herausgefunden.«
»Welche Wahrheit?«
»Er hat seinen Tod nur vorgetäuscht, um den vielen Attentätern zu entgehen, die ihn umbringen wollten, nachdem er erneut den
Thron bestiegen hatte.«
»Wohin ist er gegangen?«
»Dazu komme ich gerade.« Nun lag ein fiebriger Glanz in Nicolaes Blick. Rote Flammen loderten hinter dem Blau seiner Augen,
und seine Stimme war so bitter, dass es schmerzte. »Wir haben diese Schlacht verloren und uns zurückgezogen. Ich hatte genug
vom Krieg. Da ich glaubte, mein Bruder sei tot, hängte ich mein Schwert an den Nagel und kehrte nach
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