Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
hohen Bogen in die Luft. Und im Bruchteil eines Wimpernschlages war er völlig zu Staub zerfallen und meinem
Blick entzogen.
Schwindel erfasste mich, und ich sackte auf den Boden, starrte benommen und ungläubig auf die blutbesudelte leere Stelle vor
mir.
Dracula war tot.
Ich weinte, aber es war keine Zeit für Trauer. Ich zwang mich aufzustehen und eilte an Jonathans Seite, wo ich mich hinkniete
und ihn ängstlich in die Arme schloss. Zu meiner großen Erleichterung konnte ich feststellen, dass er atmete. Ich küsste ihn
wieder und wieder und rief seinen Namen, während ich ihm sanft über das Antlitz streichelte. Wenig später schlug er die Augen
auf. Benommene Verwirrung wich schon bald dem Ausdruck von Angst und Sorge. Er wollte sich auf die Füße kämpfen.
»Wo ist er?«, schrie er.
»Er ist fort«, antwortete ich und hielt Jonathan fest in den Armen geborgen, während meine Wangen noch nass von Tränen waren.
»Ich habe ihn getötet.«
»Du hast ihn getötet?« Er war erstaunt und erleichtert.
»Ja.« Ich erzählte ihm alles, was ich getan hatte, ließ nur eine Einzelheit aus, nämlich Draculas letzten, leidenschaftlichen
Ausbruch. »Ohne dich hätte ich es niemals tun können. Wie bist du hierher gekommen?«
»Ich war den ganzen Abend lang unruhig. Du warst irgendwie anders, Mina. Ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich glauben
sollte, dass der Graf tot war. Und wenn das nicht stimmte, könnte er dich noch in seiner Gewalt haben. Als ich aufwachte,
stellte ich fest, dass du verschwunden warst, und fürchtete, er hätte dich entführt. Ich ritt unverzüglich zur Burg. Die Tür
stand offen, aber alles schien verlassen. Ich schaute überall nach. Ich eilte die Treppe hinauf, und dann |514| hörte ich seine Stimme. Er drohte, dich zu töten. Ich stürzte mich mit meinem Messer auf ihn, aber …« Jonathan errötete zutiefst.
»Das ist das Letzte, woran ich mich erinnern kann.« Rasch fügte er hinzu: »Ich habe ihn nicht erkannt. Bist du sicher, dass
er es war? Er sah so jung aus.«
Ich wählte meine Worte sorgfältig. »In dieser Gestalt ist er mir in der Vergangenheit schon erschienen.«
Er starrte mich an. »Hat er dir dieses Kleid geschenkt?« Als ich nickte, fragte er: »Hat er dich verletzt?«
Ich hielt inne. Mein Herz schien in zwei Teile gerissen zu sein, und dieser Riss würde niemals heilen. Eine tiefe Wunde hatte
mir Dracula zugefügt; aber diese Wahrheit konnte ich mit Jonathan nicht teilen. »Nein«, flüsterte ich. »Er hat mir nichts
angetan, das nicht mit der Zeit heilen würde.«
»Und er ist nun wahrhaftig tot?«
»Ja. Gott sei Dank, du bist genau im richtigen Augenblick gekommen, mein lieber Mann, sonst wäre ich jetzt tot … und mit mir
unser Kind.«
Nun setzte sich Jonathan auf und schaute mich voller Verwunderung an. »Unser …?«
Ich nickte und konnte ein tränenfeuchtes Lächeln nicht unterdrücken, während ich seine Hand nahm und in meinen Schoß legte.
Da trat ein Blick so reinen Glücks auf das Gesicht meines Mannes, dass ich glaubte, mein Herz müsste schmelzen und vergehen.
Ich musste in einem Atemzug lachen und schluchzen. Dann schloss mich Jonathan in die Arme und küsste mich.
Wir kehrten zum Lager zurück, ehe die anderen aufwachten. Jonathan und ich kamen überein, dass wir besser die Ereignisse,
die sich in der Burg zugetragen hatten, nicht erwähnen sollten. Mochten die Männer weiterhin denken, dass Dracula am Abend
zuvor von ihren eigenen Händen den Tod gefunden hatte und dass Herr Morris als Held gestorben war. So kam es, dass in allen
Tagebüchern, die wir damals führten, |515| verzeichnet stand, dass Dracula bei Sonnenuntergang am 6. November gestorben war, hingestreckt von den Klingen von Jonathan
und Herrn Quincey Morris.
Am nächsten Morgen traten wir alle die lange Rückreise nach England an, die wir nur unterbrachen, um Herrn Morris mit einer
ruhigen, respektvollen Zeremonie auf einem Friedhof in Bistritz zu beerdigen. Ich hatte mich so sehr daran gewöhnt, Draculas
Stimme in meinen Gedanken zu hören, dass sein Schweigen in mir eine schmerzliche Leere hinterließ. Manchmal weinte ich, und
nichts, das Jonathan oder die anderen sagten, konnte mich trösten. Sie schrieben dieses Übermaß an Emotionen dem zu, was sie
»meine anderen Umstände« nannten. Aber ich vermochte nicht aufzuhören, an ihn zu denken, an all das, was er mir bedeutet hatte,
und an seine letzten Worte.
Hatte er sich
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