Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
Terrace entlangspazierten und den
Meerblick und die angenehme Sommerbrise genossen. »Hast du wieder einen Brief erhalten?«
Ich seufzte tief. »Seit einem ganzen Monat habe ich nichts von ihm gehört. Ich bin höchst besorgt.«
»Ein Monat ist doch keine so lange Zeit zwischen zwei Briefen.«
»Für Jonathan schon.«
In den vergangenen fünf Jahren hatte Jonathan in Exeter bei einem lieben Freund seiner Familie eine Lehre als Anwaltsgehilfe
absolviert. Herr Peter Hawkins hatte auch die Kosten für seine weitere Ausbildung übernommen. Gegen Ende April hatte Herr
Hawkins Jonathan als seinen Vertreter nach Osteuropa geschickt, in das Land Transsilvanien, wo er sich mit einem Adeligen,
dem Grafen Dracula, treffen sollte, für den er ein Immobiliengeschäft abgewickelt hatte. Jonathan hatte sich sehr über diese
Gelegenheit gefreut, denn er hatte schon immer reisen wollen, aber nie über die notwendigen Geldmittel verfügt.
»In all den Jahren haben Jonathan und ich einander mit schönster Regelmäßigkeit geschrieben, oft sogar zweimal in der Woche.
Als er gerade die Reise angetreten hatte, erhielt ich einen langen Brief voller Neuigkeiten über die Überfahrt, alle Sehenswürdigkeiten,
die er sich anschaute, die Menschen, die ihm begegnet waren, und die neuen Speisen, die er gekostet hatte. Doch plötzlich
brach die Korrespondenz ab. Ich erfuhr nicht, ob er Transsilvanien erreicht hatte, und glaubte, es sei ihm vielleicht ein
Unglück zugestoßen. Ich beschaffte mir von Herrn Hawkins die Anschrift des Grafen Dracula und schrieb Jonathan unter dieser
Adresse. Endlich erreichte |21| mich eine Notiz – wenn sie auch kurz und hastig abgefasst war, überhaupt nicht Jonathans Art, ohne jegliche Erwähnung des
Briefes, den ich geschickt hatte – nur einige wenige Zeilen, in denen er mir mitteilte, seine Arbeit dort sei beinahe abgeschlossen
und er würde sich in wenigen Tagen auf den Heimweg machen. Ich antwortete ihm unverzüglich und ließ ihn meine Reisepläne wissen,
sodass er mir die Post hierher nach Whitby senden konnte. Doch inzwischen ist schon wieder ein Monat vergangen, ohne dass
ich eine Antwort erhalten hätte. Was kann ihm nur zugestoßen sein?«
»Vielleicht ist er länger als erwartet in Transsilvanien geblieben, oder er hat sich entschieden, auf der Heimreise weitere
Sehenswürdigkeiten anzuschauen?«
»Wenn das stimmt, warum hat er mich es dann nicht wissen lassen? Warum hat er meinen letzten Brief nicht beantwortet?«
»Die Post geht oft seltsame Wege, Mina, und manchmal dauert es ewig, bis sie bei uns eintrifft, besonders wenn sie aus dem
Ausland kommt. Glaube mir: Jonathan geht es gut. Du hörst bestimmt ganz bald von ihm. Er möchte sicher nicht, dass du dich
ängstigst. Es liegt ihm gewiss daran, dass du deine Ferien genießt.«
Ich seufzte wieder. »Wahrscheinlich hast du recht.«
Wir stiegen eine steile Treppe zum Pier hinunter und gingen von dort am Fischmarkt vorüber, wo die Fischer und ihre Frauen
an den Booten standen und die letzten Kisten mit dem Fang des Tages unter eifrigem Feilschen an einige schlicht gekleidete
Käufer verhökerten. Die Luft hallte wider vom Lärm der krächzenden Seevögel, dem Geräusch der Wellen und der Segel, die in
der Brise klatschten; sie war so mit dem salzigen Aroma des Meeres, dem Geruch nach frischem Fisch und feuchten Tauen gesättigt,
dass ich sie beinahe auf der Zunge zu schmecken meinte.
»Wie ich das Meer liebe!«, rief ich aus. Das fröhliche Durcheinander der Bilder, Töne und Gerüche ringsum hatte |22| mich frisch gestärkt. »Jetzt musst du mir aber alles berichten, Lucy. Wie ist dein Herr Holmwood? Oder sollte ich besser sagen:
der künftige Lord Godalming?«
»Oh! Arthur ist wirklich ein Schatz. Er hat versprochen, mir schon bald hier in Whitby einen Besuch abzustatten. Ich vermisse
ihn so sehr, wenn wir getrennt sind.«
»Habt ihr den Hochzeitstag schon festgelegt?«
»Nein, aber Mama drängt uns, recht bald zu heiraten, vielleicht bereits im September. Ich muss gestehen – ich hoffe, dass
ich dir das sagen kann, Mina –, September kommt mir schrecklich bald vor. Es ist doch erst zwei Monate her, dass ich Arthurs
Antrag angenommen habe. Ich habe mich immer noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass ich tatsächlich heiraten werde.«
Ich schaute Lucy voller Überraschung an. »In deinen Briefen hast du geschrieben, du hättest dich bis über beide Ohren in Arthur
verliebt, und du
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