Dracula, my love
Muster:
„Was sehen und hören Sie?“, fragte er mich, nachdem er mit den Händen vor meinen Augen hin und her gewedelt hatte, als wolle er mich verzaubern.
Ich ließ mich sofort in Trance versetzen, erweckte ihm den Eindruck, er könnte mich mit seinen Anordnungen zum Reden bringen und meine Gedanken würden ihm gehorchen. „Alles ist dunkel“, antwortete ich bei der ersten Gelegenheit. „Da sind Wellen, die gegen das Schiff schlagen. Wasser rauscht vorbei.“ Am nächsten Tag fügte ich noch hinzu: „Segeltuch und Tauwerk knattern, Masten und Rahen knarren.
Ein starker Wind, ich kann ihn in den Wanten hören, und der Bug schiebt den Schaum vor sich her.“
Mein Schauspiel schien alle zufriedenzustellen. „Offenbar ist die Zarin Katharina noch auf hoher See und eilt mit vollen Segeln auf Varna zu“, sagte Jonathan.
Ehe wir London verließen, hatte Lord Godalming Vorsorge getroffen, dass sein Agent ihm täglich ein Telegramm schicken sollte, ob man das Schiff gesichtet hatte. Die Zarin Katharina musste die Dardanellen passieren, jene Meerenge zwischen dem europäischen und dem asiatischen Teil der Türkei, die das Marmarameer mit der Ägäis verbindet. Bisher hatte man sie dort nicht gesichtet. Als wir in Varna eintrafen, suchte Dr. van Helsing den Vizekonsul auf, um die Erlaubnis zu erwirken, sofort an Bord des Schiffes zu gehen, sobald es einlief. Lord Godalming erzählte den Spediteuren, die Kiste enthielte Verschiedenes, das einem seiner Freunde gestohlen worden sei, und bekam die Genehmigung, sie auf eigene Gefahr zu öffnen.
„Auch wenn der Graf die Gestalt einer Fledermaus annimmt, kann er das fließende Wasser nicht aus eigener Kraft überwinden“, erklärte der Professor, während wir an jenem ersten Abend im Speisesaal des Hotels beim Essen saßen. „Also kann er das Schiff nicht verlassen. Wenn es uns gelingt, nach Sonnenaufgang an Bord zu kommen, so ist er in unserer Gewalt.“
Ich allem wusste, dass dieser Plan ins Leere laufen würde. Zum einen hatte mir Nicolae berichtet, dass die Theorie des Professors darüber, dass Vampire kein fließendes Wasser überqueren können, völlig falsch war. Wichtiger noch: er war ja überhaupt nicht an Bord dieses Schiffes.
„Ich werde die Kiste aufreißen und das Ungeheuer vernichten, ehe es erwacht!“, rief Jonathan.
„Wird man uns nicht des Mordes verdächtigen, wenn wir so vorgehen?“, sorgte sich Dr. Seward.
„Nein“, antwortete Dr. van Helsing, „denn wenn wir seinen Kopf abtrennen und ihm einen Pfahl durch das Herz treiben, sollte sein Körper zu Staub zerfallen und keinerlei Spuren hinterlassen, die gegen uns sprechen könnten.“
„Wieso Staub?“, wollte Herr Morris wissen. „Fräulein Lucys Leichnam hat sich nicht in Staub verwandelt, als wir so mit ihr verfuhren.“
„Sie war ein sehr junger Vampir, also war ihr Körper noch nicht zerfallen. Graf Dracula ist Jahrhunderte alt. Er muss nun zum Staub zurückkehren.“
Nicolae war seit unserer Abreise aus England täglich in Gedankenkontakt mit mir getreten. Er hatte sechs Tage vor uns die gleiche Route eingeschlagen, war ebenfalls mit dem Orient-Express gereist, hatte sich bei Tag im Güterwagen in einer Kiste Erde ausgeruht, die als Fracht getarnt war. Im Augenblick, erzählte er mir, war er bereits auf Burg Dracula und traf gewisse Vorkehrungen für die kommenden Ereignisse.
Was ist mit der Zarin Katharina?, fragte ich ihn in Gedanken. Was geschieht, wenn das Schiff in Varna ein läuft?
Du wirst es schon sehen , antwortete er.
Eine Woche lang warteten wir in Varna auf Nachricht, dass man die Zarin Katharina gesichtet hatte. Während dieser Zeit begann ich mich ungeheuer müde zu fühlen und schlief sehr viel, oft bis weit in den Nachmittag hinein. Mein Appetit schwand, mir war häufig kalt, und ich bemerkte, dass ich ein wenig blasser als gewöhnlich aussah, was die rote Narbe auf meiner Stirn nur noch deutlicher hervortreten ließ.
Auch den Männern waren diese Veränderungen an mir nicht entgangen, und sie machten sich insgeheim Sorgen, selbst wenn sie mir gegenüber nicht offen darüber sprachen. Sie glaubten alle noch, dass ich in jener Nacht infiziert wurde, als ich Draculas Blut trank. Ich redete mir ein, dass die Symptome lediglich auf die Anstrengungen meiner schlaflosen Nächte und die Strapazen der vielen Reisetage zurückzuführen wären.
Am 24. Oktober erreichte uns eine Depesche, die uns mitteilte, man hätte die Zarin Katharina bei der Durchfahrt durch die
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