Dracula, my love
Friedhof unweit der Londoner Stadtmitte lag. Also traf Jonathan alle notwendigen Vorbereitungen. Ich schrieb an Lucy und teilte ihr die traurige Nachricht mit. Am 21. September fuhren wir mit dem Zug in die Stadt, wo wir spätabends eintrafen. Die Beisetzung fand am nächsten Morgen statt. Ich trug mein bestes schwarzes Kleid, dasselbe, das ich auch an meinem Hochzeitstag angehabt hatte. Jonathan hatte sich rasch einen neuen schwarzen Anzug schneidern lassen. Da Herr Hawkins keinerlei Verwandte hatte, war Jonathan der Hauptleidtragende. Es waren außer uns und den Dienstboten nur noch eine Handvoll Trauergäste erschienen.
Während der schlichten Zeremonie am Grab standen Jonathan und ich Hand in Hand nebeneinander und nahmen tränenreichen Abschied von dem Mann, der unser bester und liebster Freund gewesen war. Plötzlich musste ich an Jonathans verstorbene Mutter denken, die ich ebenso sehr geliebt hatte, und an meine Eltern, die ich nie gekannt hatte, und mir wurde noch trauriger zumute.
„Jonathan“, sagte ich, nachdem die Trauerfeier beendet war und die wenigen Anwesenden gegangen waren, „ist dir bewusst, dass wir bei unserem letzten gemeinsamen Besuch in London auch an einer Beerdigung teilgenommen haben?“
Er nickte traurig. „Ich habe ebenfalls an Mutter gedacht.“
„Ich habe sie immer so gern im Waisenhaus besucht. Sie war stets so gut gelaunt. Und wie sie in kürzester Zeit aus nichts eine Mahlzeit zaubern konnte!“
„Wir sind nur ungefähr eine Meile vom Waisenhaus entfernt“, erklärte mir Jonathan. Seit Jahren, seit seine Mutter in den Ruhestand getreten war, waren wir beide nicht mehr dort gewesen. „Was meinst du? Sollen wir um der guten alten Zeiten willen dort einen Besuch machen?“
Der Gedanke gefiel mir. In einer halben Stunde hatten wir die Strecke hinter uns gebracht. Als wir draußen vor dem hohen, alten Gebäude standen und die ausgetretenen Treppenstufen betrachteten, die zur Eingangstür hinaufführten, konnte ich mich des Gedanken an die jämmerlichen Umstände nicht erwehren, unter denen ich hier vor gut einundzwanzig Jahren eingetroffen war.
„Komm“, sagte Jonathan und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag, „wir wollen hineingehen und unserem alten Freund Bradley Howell, dem Verwalter, guten Tag sagen.“
Als wir läuteten und eingelassen wurden, erfuhren wir, dass inzwischen ein neuer Verwalter den Posten übernommen hatte. Tatsächlich erkannten wir nur noch sehr wenige Leute.
Und natürlich waren alle Kinder, die damals mit uns unter diesem Dach gelebt hatten, längst erwachsen geworden und weitergezogen. Wir erklärten, wer wir waren, und baten darum, uns kurz umsehen zu dürfen. Das erlaubte man uns.
Zunächst streckten wir den Kopf in die Küche, wo wir uns immer besonders gern zusammengefunden hatten, solange Jonathans Mutter hier noch das Zepter schwang. Aber wir erkannten keine Menschenseele mehr, und da die Angestellten gerade das Mittagessen reichten, eilten wir weiter.
„Es ist ein merkwürdiges Gefühl“, flüsterte ich Jonathan zu, als wir langsam durch den vertrauten, dunklen Korridor im Erdgeschoss schritten, „wieder in den alten Räumen und doch fremd zu sein.“
Er nickte. „Ich habe wesentlich mehr Zeit hier unten mit dir und den anderen Kindern verbracht als in unseren Zimmern oben mit Mutter.“
„Weißt du noch, wie wir die Bonbons aus Herrn Howells Schreibtisch gestohlen und uns dann im Schrank unter der Treppe versteckt und restlos alle aufgegessen haben?“, fragte ich.
„Mir war so schlecht, dass ich monatelang keine Süßigkeiten mehr sehen konnte!“
Lachend erinnerten wir uns noch an einige andere Jugendstreiche. Als wir am Speisesaal vorüberkamen, hörten wir drinnen das Murmeln vieler Stimmen, das Klirren von Geschirr, Gabeln und Löffeln. Abwechselnd spähten wir durch das kleine Fenster in der Tür in den Saal und erblickten dort fünfzig oder mehr Kinder, die an langen Tischen saßen und ihr Mittagessen einnahmen. Der Anblick ihrer blassen, kleinen Gesichter und der bunt zusammengewürfelten, schlecht sitzenden Kleidungsstücke erinnerte mich an mich selbst in diesem Alter und schmerzte ein wenig.
Plötzlich kam ein kleiner Junge, der vielleicht acht Jahre alt gewesen sein mag, mit hochrotem Kopf den Flur entlanggerannt und steuerte auf die Tür des Speisesaals zu. Als Jonathan und ich zur Seite traten, um ihn vorüberzulassen, blieb er stehen und schaute uns mit weit aufgerissenen Augen an. „Wollen Sie jemanden
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