Dracula, my love
adoptieren?“, fragte er hoffnungsvoll.
„Tut mir leid, junger Mann“, erwiderte Jonathan freundlich. „Wir sind nur zu Besuch. Wir haben früher als Kinder selbst hier gelebt.“
Der Junge schaute auf Jonathans blitzblanke Schuhe und den neuen Anzug, und dann blieben seine Augen lange an seinem wunderschönen roten Kaschmirschal hängen. „Aber jetzt muss es Ihnen richtig gutgehen! Das ist meine Lieblingsfarbe: rot.“
„Wirklich?“, fragte Jonathan. Ich wusste, dass er den Schal Vorjahren von Herrn Hawkins geschenkt bekommen hatte und sehr schätzte. Doch ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, sagte er: „Er gehört dir“ und legte dem kleinen Jungen den Schal um den Hals.
Der schnappte in sprachloser Verzückung nach Luft. Dann schienen ihn die Gefühle zu überwältigen, und er schob die Tür auf und verschwand im Speisesaal.
Ich ergriff Jonathans Hand und drückte sie, während wir weiter den Korridor entlanggingen. „Das war sehr lieb und sehr großzügig von dir.“
Jonathan zuckte nur die Achseln. „Ich wünschte nur, wir könnten jedem Einzelnen von ihnen ein Heim bieten und Eltern, die sie lieben.“
Wir hatten gerade die Eingangshalle erreicht, als eine alte Frau mit weißem Häubchen und gestärkter Schürze vorüberging. Ich erkannte sie sofort. Sie war eine der Angestellten, die ich nie besonders gemocht hatte. Sie war es gewesen, die ich mit einer anderen über meine Mutter hatte tratschen hören, als ich gerade einmal sieben Jahre alt war. Als sie uns erblickte, blieb die alte Frau stehen und rief: „Meiner Seel, wenn das nicht Fräulein Mina und Master Jonathan sind. Solche Kinder wie euch haben wir schon viele Jahre hier nicht mehr gesehen.“
„Guten Tag, Frau Pringle“, erwiderte ich höflich. „Wie geht es Ihnen?“
„Ach, wie immer, nur älter bin ich geworden. Und wie geht es euch beiden?“
„Sehr gut, danke, Madam“, antwortete Jonathan. „Wir sind jetzt verheiratet.“
„Ach wirklich? Gut gemacht! Ihre Mutter hätte sich darüber gefreut.“ Nun schaute sie mich an und wurde einen Augenblick ganz still, als versuchte sie, sich an etwas längst Vergessenes zu erinnern.
„Nun, Madam“, sagte Jonathan mit einem Lächeln, „es war schön, Sie wiederzusehen. Adieu.“ Er nahm meinen Arm, und wir wollten gerade zur Tür gehen, als die alte Frau herausplatzte: „Haben Sie den Umschlag jemals bekommen, Fräulein Mina?“
Überrascht wandte ich mich zu ihr um. „Welchen Umschlag?“
„Na, den Umschlag, der für Sie hier abgegeben wurde, als Sie noch ein Kind waren.“
Jonathan und ich wechselten einen verwirrten Blick, und ich sagte: „Ich habe keinen Umschlag erhalten, Frau Pringle. Wieso wissen Sie davon?“
„Nun, ich war an dem Tag hier, als er angekommen ist. Eine junge Frau gab ihn mir, hier an der Tür. Sie war so blass und kränklich, dass ich mich erinnere, gedacht zu haben: Die lebt bestimmt nicht mehr lange. Sie hatte Ihren Namen auf den Umschlag geschrieben und nahm mir das Versprechen ab, ihn dem Leiter des Waisenhauses zu geben, der ihn erst nach Ihrem achtzehnten Geburtstag an Sie weiterreichen sollte.“
Mein Herz begann wie wild zu hämmern. „Wann war das?“
„Sie mögen damals wohl sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein, wenn ich mich nicht irre.“
„Wer hat diesen Brief gebracht? War es meine Mutter? Was stand darin?“
Nun senkte die alte Frau die Augen, und ihr verstohlener Blick verriet mir, dass sie den Brief gelesen hatte, ehe sie ihn dem Leiter des Waisenhauses überbracht hatte. Wenn sie ihn denn wirklich überbracht hatte. „Das kann ich Ihnen nicht sagen, Madam. Seltsam, dass Herr Howell Ihnen das Schreiben nie geschickt hat, nachdem Sie volljährig waren. Er wird es wohl einfach vergessen haben.“
Ich war wie benommen und gleichzeitig höchst erregt über diese Nachricht. Es war die erste Information, die ich je über meine Mutter gehört hatte, seit jener Bemerkung über ihre Verfehlung, die mich als Kind so entsetzt hatte. Doch nun machte mich die Neuigkeit traurig, dass sie kränklich gewesen war. Wir verabschiedeten uns von Frau Pringle und suchten den neuen Direktor der Einrichtung auf. Er war ein schnurrbärtiger, sehr beschäftigt wirkender Mann, der meinte, er wisse nichts von einem an mich adressierten Brief, würde diesen aber, falls er ihm je in die Hände geriete, gern weiterleiten. Ich gab ihm meine Adresse in Exeter, und wir verabschiedeten uns.
„O Jonathan!“, rief ich, als wir wieder auf
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