Dracula - Stoker, B: Dracula
weil ich Sie hasse und schon immer gehasst habe? Oder weil ich Sie verletzen will? Oder will ich mich, wenn auch spät, dafür revanchieren, dass Sie mich damals vor einem schlimmen Tod gerettet haben? Gewiss nicht!«
»Verzeihen Sie mir«, sagte ich. Er fuhr fort:
»Mein Freund, es geschah, weil ich Ihnen die Wahrheit so schonend wie möglich beibringen wollte, denn ich weiß ja, dass Sie das schöne Mädchen geliebt haben. Auch jetzt erwarte ich noch nicht, dass Sie mir Glauben schenken. Ist es schon schwer, eine abstrakte Wahrheit zu glauben, die man bisher für unmöglich hielt, so ist es noch viel schwerer, eine konkrete Tatsache anzuerkennen, besonders wenn es sich um eine solche handelt, wie ich Sie Ihnen heute von Lucy berichten musste. Heute Nacht werde ich Ihnen den Beweis liefern. Wollen Sie mit mir kommen?«
Die Frage verunsicherte mich, denn für eine scheußliche Wahrheit |284| möchte man eigentlich gar keine Beweise sehen. Byron benennt als Ausnahme für diese Regel einzig den Fall der Eifersucht, die eine schlimme Wahrheit ist, bei der es uns dennoch nach Beweisen verlangt: ›… und er bewies sich selbst die Fakten, die er am meisten verabscheute.‹ 1
Van Helsing erkannte meine Unentschlossenheit und sagte:
»Die Logik ist in diesem Fall sehr einfach, sie ist nicht die eines Narren im nebligen Sumpf, der von Insel zu Insel springt. Es sieht so aus: Wenn ich mich geirrt haben sollte, dann werden wir durch unsere Feststellung erleichtert sein, jedenfalls wird sie keinen Schaden anrichten. Wenn es aber wahr ist? Dann stehen wir dem Grauen gegenüber, und das Grauen wird mir helfen, meine Sache zu vertreten, denn das Grauen setzt einen gewissen Glauben voraus. Kommen Sie, ich erzähle Ihnen, was ich vorhabe: Zuerst gehen wir ins Hospital und besuchen das Kind. Am North Hospital, wo sich das Kind laut Zeitungsbericht befindet, arbeitet Doktor Vincent. Er ist mein Freund, und ich denke, auch der Ihre, da Sie ja miteinander in Amsterdam bei mir studiert haben. Wenn er uns nicht aus alter Freundschaft den Zutritt gewähren will, dann kommen wir eben als Wissenschaftler. Wir werden ihm nichts weiter sagen, als dass wir aus Gründen der Forschung da sind. Und dann …«
»Und dann?« Er zog einen Schlüssel aus seiner Tasche und hob ihn hoch. »Dann werden wir beide, Sie und ich, eine Nacht auf dem Friedhof verbringen, wo Lucy ruht. Dies ist der Schlüssel zu ihrer Gruft, der Friedhofswärter hat ihn mir für Arthur gegeben.« Ich erschrak bis in die tiefste Seele, denn ich fühlte, dass uns etwas Entsetzliches bevorstand. Da ich nichts zu erwidern wusste, fasste ich mir ein Herz und drängte zur Eile, da der Tag sich schon zu neigen begann …
|285| Wir fanden das Kind wach. Es hatte ausreichend geschlafen und gegessen, und es schien ihm den Umständen entsprechend gut zu gehen. Doktor Vincent nahm das Tuch von dem kleinen Hals und zeigte uns die punktartigen Wunden. Es war unmöglich zu leugnen, dass sie mit denen an Lucys Hals große Ähnlichkeit hatten. Sie waren nur etwas kleiner und die Ränder sahen frischer aus, das war alles. Wir fragten Vincent, was er von diesen Wunden hielte, und er erwiderte, dass es Tierbisse wären, zum Beispiel von einer Ratte. Er selbst würde die Wunden jedoch eher einer großen Fledermaus zuschreiben, wie sie häufig in den Höhen nördlich von London vorkommen. »Zwischen so vielen harmlosen Exemplaren«, sagte er, »könnten sich auch einige wilde Exemplare aus dem Süden befinden, die einer gefährlicheren Art angehören. Sie könnten wohl von Segelschiffen eingeschleppt worden und ins Umland entkommen sein. Es ist ebenso nicht unwahrscheinlich, dass ein Jungtier aus dem Zoologischen Garten entflohen ist und sich da draußen fortgepflanzt hat. Sie wissen, solche Dinge können vorkommen. Erst vor zehn Tagen ist ein Wolf ausgebrochen und hat sich, soviel ich weiß, auch in dieser Gegend sehen lassen. Eine Woche später spielten die Kinder auf der Heide und in den Gassen nur noch ›Rotkäppchen‹, bis dann die ›Schöne Lady‹ auftauchte. Selbst dieses kleine Mädchen hier fragte die Pflegerin nach dem Aufwachen, ob sie nicht fortgehen dürfe. Als sie gefragt wurde, warum sie denn fort wolle, sagte sie, sie würde gerne mit der ›Schönen Lady‹ spielen.«
»Ich rate Ihnen«, sagte van Helsing, »den Eltern bei der Entlassung der Kleinen dringend ans Herz zu legen, gut auf sie aufzupassen. Dieser Hang zum Herumstreifen ist höchst gefährlich, denn wenn
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