Dracula - Stoker, B: Dracula
mehrere Fuß lang auf, dann führte er den Schlitz quer hinüber und sägte auf der anderen Längsseite wieder hinunter. Schließlich ergriff er den oberen Rand, bog das Metall zum Fußende des Sarges hin auf, hielt die Kerze in die Öffnung und forderte mich auf hineinzusehen.
Ich trat näher und sah: Der Sarg war leer.
Ich war aufs Äußerste überrascht und erschrocken, aber van Helsing schien völlig unberührt zu sein. Er war sich seiner Sache nun offensichtlich sicherer als je zuvor. »Sind Sie nun zufrieden, Freund John?«, fragte er.
Mich aber packte die Streitlust, und ich antwortete ihm:
»Nun, ich gebe zu, dass Lucys Körper nicht im Sarg liegt. Aber das beweist noch gar nichts, höchstens eine einzige, schlichte Tatsache.«
»Und die wäre?«
»Dass er eben nicht hier ist.«
»Das ist gute Logik«, sagte van Helsing, »doch damit allein kommen Sie zu keinem Resultat. Denn wie erklären Sie sich, wie
wollen
Sie sich erklären, dass er nicht hier ist?«
»Vielleicht war es ein Leichenräuber«, schlug ich vor, »oder einer der Leute des Bestattungsunternehmens hat die Leiche gestohlen.« 2 Ich merkte, dass ich Unsinn sprach, und doch wären dies die einzig plausiblen Erklärungen gewesen. Der Professor seufzte. »Nun gut«, sagte er, »dann brauchen wir eben noch einen Beweis. Kommen Sie mit!«
Er bog das Blei zurück, legte den Sargdeckel wieder auf seinen Platz, packte alle seine Sachen zusammen und schob sie in den Koffer. An der Tür blies er die Kerze aus, wir öffneten und gingen hinaus. Er schloss sorgfältig ab und reichte mir den Schlüssel, |289| wobei er sagte: »Wollen Sie ihn nicht an sich nehmen? Dann könnten Sie umso sicherer sein.« Ich lachte ein wenig heiteres Lachen und bat ihn, den Schlüssel zu behalten. »Ein Schlüssel bedeutet gar nichts«, sagte ich, »es könnte ja Duplikate davon geben. Außerdem ist es keine Kunst, ein Schloss wie dieses hier zu öffnen.« Er erwiderte nichts, sondern steckte den Schlüssel ein. Dann gab er mir den Auftrag, auf dieser Seite des Friedhofes Wache zu halten, während er das Gleiche auf der anderen Seite tun wollte. Ich suchte mir einen Platz hinter einer Eibe aus und sah zu, wie seine dunkle Gestalt allmählich hinter den Grabsteinen und Bäumen verschwand.
Es war eine einsame Nachtwache. Kurz nachdem ich meinen Posten bezogen hatte, hörte ich eine ferne Uhr zwölf schlagen. Dann schlug es eins, dann zwei. Ich fror, war nervös und ärgerte mich über den Professor, dass er mich zu solch einem Unsinn mitgeschleppt hatte, und über mich selbst, dass ich mitgegangen war. Die Kälte und die Müdigkeit machten es mir schwer, aufmerksam zu beobachten; ich war aber andererseits auch noch nicht schläfrig genug, um ohne Weiteres einer Sinnestäuschung zu erliegen. So verbrachte ich hinter meinem Baum eine trostlose, erbärmliche Zeit.
Plötzlich, als ich mich gerade umdrehen wollte, meinte ich auf der mir entgegengesetzten Seite des Friedhofes zwischen zwei dunklen Eiben einen weißen Streifen zu erkennen, der sich zu bewegen schien. Zur gleichen Zeit löste sich von der Seite her, wo der Professor gestanden hatte, eine Gestalt aus dem Schatten und eilte auf das Weiße zu. Auch ich versuchte nun, näher heranzukommen, aber ich hatte Grabsteine und eingezäunte Grüfte zu umgehen, und ich stolperte über Grabhügel. Der Himmel war bedeckt, und irgendwo weit draußen krähte bereits ein früher Hahn. Dann sah ich unweit von mir eine weiße Gestalt, die sich hinter einer Reihe von Wacholdersträuchern, die den Weg zur Friedhofskapelle säumten, in Richtung der Westenra-Gruft zu bewegen schien. Die Gruft selbst war von Bäumen verdeckt, |290| sodass ich nicht erkennen konnte, wo die Gestalt verschwand. Aus der Richtung, wo ich die Gestalt zuerst hatte auftauchen sehen, drangen nun auch Geräusche, und wie ich darauf zuging, kam mir der Professor entgegen, in seinen Armen trug er ein schlafendes kleines Kind. Als er mich erblickte, hielt er mir das Kind entgegen und sagte:
»Sind Sie
nun
zufrieden?«
»Nein!«, sagte ich in ziemlich verletzendem Ton, der mir selbst auffiel.
»Ja sehen Sie denn dieses Kind hier nicht?«
»Allerdings, das ist ein Kind, aber wer hat es hierher gebracht? Und ist es denn verletzt?«, fragte ich.
»Wir wollen sehen«, erwiderte der Professor. Gemeinsam verließen wir den Friedhof, das Kind schlief in seinen Armen.
Nachdem wir ein Stück gegangen waren, begaben wir uns in den Schutz einer Baumgruppe und untersuchten
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