Dracula - Stoker, B: Dracula
dass es Einzelne gibt, die immer weiter leben, wenn man sie nicht tötet; dass Männer und Frauen existieren, die nicht sterben können? Wir alle wissen – denn die Wissenschaft verbürgt sich für diese Tatsache –, dass Kröten aus der Frühzeit der Erde für Jahrtausende in kleine Felslöcher eingeschlossen waren und dies überstanden haben. Können Sie mir sagen, wie es die indischen Fakire machen, dass sie sterben und begraben werden, worauf man ihr Grab versiegelt und Getreide darauf sät, das reift und geschnitten wird, woraufhin man wieder neues Getreide sät und so weiter, und dass man dann schließlich wieder hingeht zum Sarg und das unverletzte Siegel aufbricht, worunter der Fakir liegt, keineswegs tot, sondern lebendig? Der dann aufsteht und wieder unter den anderen wandelt wie zuvor?« Hier unterbrach ich ihn, denn ich war ganz verwirrt. Er überhäufte meinen Verstand dermaßen mit Exzentrizitäten und möglichen Unmöglichkeiten der Natur, dass meine Fantasie Feuer zu fangen begann. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass er mir da eben eine Lektion erteilte wie vor Zeiten in seinem Hörsaal. Damals jedoch pflegte er die Dinge so zu erklären, dass man den Hauptgegenstand, das Ziel seiner Rede immer im Gedächtnis hatte. Heute war ich ohne dieses Hilfsmittel. Da ich seinen Ausführungen dennoch zu folgen wünschte, sagte ich:
»Herr Professor, lassen Sie mich wieder Ihr Lieblingsstudent sein. Verraten Sie mir Ihre These, damit ich Ihre fortschreitenden Folgerungen auch verstehen kann. Gegenwärtig läuft mein Verstand im Zickzack wie ein Narr, anstatt auf geradem Weg |281| eine Idee zu verfolgen. Ich fühle mich wie einer, der sich zum ersten Mal im Nebel in einem Sumpf verlaufen hat. Ich springe von einem Binsenbüschel zum anderen, lediglich im blinden Bestreben, vorwärts zu kommen, ohne aber zu wissen, wohin.«
»Das ist ein guter Vergleich«, sagte er. »Nun gut, ich will es Ihnen verraten. Mein Ziel ist: Ich will, dass Sie
glauben
.«
» Woran
glauben?«
»An Dinge, an die Sie nicht glauben können. Lassen Sie mich die Sache illustrieren. Ich hörte einmal einen Amerikaner den Glauben folgendermaßen definieren: ›Glaube ist das, was uns befähigt, Dinge für wahr zu halten, von denen wir wissen, dass sie unwahr sind.‹ Ich gebe dem Mann recht. Er will sagen, dass wir unseren Verstand offenhalten und nicht die Wahrheit des großen Ganzen über einer kleinen Wahrheit aus den Augen verlieren sollen, wie auch ein kleiner Stein einen Eisenbahnzug zum Entgleisen bringen kann. Wir gelangen zuerst zu unseren kleinen Wahrheiten, gut! Wir halten sie fest und schätzen sie, aber trotzdem dürfen wir nicht glauben, dass wir damit alle Weisheit der Welt besäßen.«
»Dann wünschen Sie also, dass nicht ein vorgefasstes Urteil die Aufnahmefähigkeit meines Verstandes in Bezug auf einige sonderbare Erscheinungen beschränke. Habe ich Ihre Lektion richtig verstanden?«
»Ah, Sie sind noch immer mein fähigster Schüler! Sie sind es wirklich wert, dass man Sie unterrichtet. Nicht nur, dass Sie den guten Willen haben, zu verstehen, Sie haben auch schon den ersten Schritt zum Verständnis getan. Sie sind also der Ansicht, dass die kleinen Wunden an den Kehlen der Kinder und Lucys Wunden von ein und demselben Wesen stammen könnten?«
»Das ist anzunehmen.« Er stand auf und sagte feierlich:
»Da liegen Sie falsch! Auch wenn ich wünschte, es wäre so. Aber nein, leider ist es schlimmer, viel schlimmer.«
»Um Gottes willen, Herr Professor van Helsing, was soll das heißen?«, rief ich.
|282| Er warf sich mit einer verzweifelten Geste auf einen Stuhl, stützte die Ellbogen auf den Tisch, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und sagte:
»Die Wunden der Kinder – das war Miss Lucy!«
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|283| FÜNFZEHNTES KAPITEL
Dr. Sewards Tagebuch
(Fortsetzung)
Im ersten Augenblick packte mich die Wut; es war ein Gefühl, als hätte er Lucy bei Lebzeiten in meiner Gegenwart geohrfeigt. Ich schlug mit der Faust auf den Tisch, sprang auf und schrie ihn an:
»Van Helsing, sind Sie verrückt geworden?« Er hob den Kopf und sah mich an, der gütige Ausdruck seines Gesichts wirkte augenblicklich besänftigend auf mich ein. »Ich wollte, ich wäre es!«, erwiderte er. »Wahnsinn wäre leicht zu ertragen, verglichen mit einer Wahrheit wie dieser. Mein lieber Freund, warum glauben Sie wohl, mache ich so weite Umwege, warum zögere ich wohl so lange, Ihnen eine so einfache Tatsache zu verkünden? Etwa
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