Dracula - Stoker, B: Dracula
Tod der armen Lucy und all das, was diesem nachfolgte, reicht völlig aus, um alle Quellen des Mitleids zu verschließen.
Später
Lord Godalming und Mr. Morris kamen früher als erwartet. Dr. Seward hatte auswärts zu tun, und Jonathan war mit ihm gefahren, so musste ich also die beiden allein empfangen. Es war eine sehr schmerzhafte Begegnung für mich, denn sie rief mir all die Hoffnungen ins Gedächtnis zurück, die die arme Lucy noch vor wenigen Monaten gehegt hatte. Ohne Zweifel hatte Lucy den beiden von mir erzählt, und es scheint, als hätte auch Dr. van Helsing ihnen gegenüber »mein Loblied gesungen«, wie Mr. Morris sich ausdrückte. Die armen Männer, keiner von ihnen ahnte, wie viel Lucy mir von ihnen und ihren Heiratsanträgen erzählt hatte. Und da sie auch in Unkenntnis meines Wissensstandes hinsichtlich Lucys Ende waren, getrauten sie sich kaum, etwas zu sagen. Unser Gespräch drehte sich daher zunächst um nichtige Dinge, bis ich mir die Sache überlegt hatte und zu dem Ergebnis gekommen war, dass es am besten wäre, sie in allen Angelegenheiten auf den neuesten Stand zu bringen. Ich wusste ja aus Dr. Sewards Tagebuch, dass sie beide Lucys Tod – ihren
wirklichen
Tod – miterlebt hatten, also stand nicht zu befürchten, ihnen vor der Zeit irgendwelche Geheimnisse zu verraten. So erzählte ich ihnen, so gut ich konnte, dass ich alle vorhandenen Papiere und Tagebücher gelesen und gemeinsam mit meinem Mann in die richtige Ordnung gebracht habe, womit wir gerade erst fertig geworden seien. Ich gab darauf jedem von ihnen eine Kopie, die sie in der Bibliothek lesen sollten. Als Lord Godalming seinen ziemlich umfangreichen Papierstapel in der Hand hielt, fragte er:
|334| »Haben Sie dies alles abgeschrieben, Mrs. Harker?«
Ich nickte, und er fuhr fort:
»Ich verstehe Ihren Antrieb zwar nicht recht, aber Sie sind so gut und freundlich und haben so eifrig und energisch gearbeitet, dass ich nichts anderes tun kann, als Ihnen blind zu vertrauen und Sie zu unterstützen. Ich habe über das Akzeptieren von Fakten bereits eine Lektion erhalten, die einen Mann für den Rest seines Lebens demütig machen kann. Außerdem weiß ich, dass Sie meine arme Lucy lieb gehabt haben …« Hier wandte er sich ab und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Mr. Morris legte für einen kurzen Augenblick mitfühlend seine Hand auf die Schulter des Freundes, dann ging er geräuschlos aus dem Zimmer. Ich glaube, es liegt etwas in der Natur der Frauen, das einem Mann erlaubt, seinem Schmerz vor ihnen freien Lauf zu lassen und seine Gefühle zu zeigen, ohne dass er sich dadurch in seiner Männlichkeit eingeschränkt fühlt. Kaum nämlich, dass Mr. Morris das Zimmer verlassen hatte und Arthur sich mit mir allein sah, setzte er sich aufs Sofa und sprach sich rückhaltlos aus. Ich setzte mich neben ihn und hielt seine Hand. Ich hoffe nicht, dass er dies unverschämt fand, und ich hoffe, dass er auch später nicht so darüber denken wird. Doch ich tue ihm Unrecht: Ich
weiß,
dass er so nicht denkt, denn er ist ein wahrer Gentleman. Ich sah, dass sein Herz gebrochen war, und sagte zu ihm:
»Ich habe Lucy geliebt und weiß, was sie Ihnen bedeutet hat und was Sie ihr waren. Lucy und ich, wir waren wie Schwestern. Nun, da sie von uns gegangen ist, wollen Sie mir nicht erlauben, Ihnen in Ihrem Leid eine Schwester zu sein? Ich weiß, welche Pein Sie auszustehen hatten, wenn ich auch deren Tiefe nicht zu ermessen vermag. Wenn Sympathie und Mitleid imstande sind, Ihnen Ihren Kummer etwas zu erleichtern, wollen Sie mich nicht mittragen lassen – um Lucys willen?«
Da wurde der arme Mann von seinem Schmerz überwältigt. Ich hatte den Eindruck, als würde das ganze Leid, das er die letzten Tage schweigend getragen hatte, nun plötzlich gewaltsam |335| hervorbrechen. Er war völlig fassungslos und rang die Hände in unsäglicher Verzweiflung. Er sprang auf und setzte sich wieder, während ihm zahllose Tränen über die Wangen flossen. Ich fühlte unendliches Mitleid mit ihm und nahm ihn unwillkürlich in meine Arme. Mit einem Seufzer legte er seinen Kopf an meine Schulter und weinte wie ein müdes Kind, während ihn der Schmerz schüttelte.
Wir Frauen haben wohl einen Mutterinstinkt, der uns über alles andere hinwegsehen lässt, wenn er einmal erwacht ist. Ich ließ den Kopf des gramerfüllten Mannes an meiner Brust ruhen, als wäre er das Haupt eines Kindes, das ich noch nicht habe, und ich streichelte sein Haar. Keinen Augenblick
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