Dracula - Stoker, B: Dracula
würde, ihn morgen früh zu entlassen, doch dann hielt ich es für besser, damit noch etwas zu warten. Es war |356| immerhin eine schwerwiegende Entscheidung, denn ich kannte ja die unglaublich raschen Veränderungen im Befinden dieses merkwürdigen Patienten. So begnügte ich mich damit, ihm einstweilen zu bestätigen, dass seine Besserung rapide voranschreite. Ich versprach, ihm am kommenden Morgen eine längere Unterredung zu gewähren und zu erwägen, wie seine Wünsche am besten umgesetzt werden könnten. Dies schien ihm jedoch nicht zu genügen, denn er erwiderte rasch:
»Ich fürchte, Dr. Seward, dass Sie meinen Wunsch nicht begriffen haben. Ich möchte
sogleich
fort, auf der Stelle, jetzt, in dieser Stunde, in diesem Augenblick, wenn es möglich ist. Die Zeit drängt, und in unserem stillschweigenden Vertrag mit dem Sensenmann ist sie von ausschlaggebender Bedeutung. Ich bin überzeugt, dass es gegenüber einem so erfahrenen Arzt wie Ihnen genügt, einen so einfachen, augenblicklich zu erfüllenden Wunsch vernünftig zu begründen, um ihn auch schon gewährt zu sehen.« Er sah mich scharf an und wandte sich dann, als er die Ablehnung in meinen Zügen las, zu den anderen um, um deren Meinung zu erforschen. Da ihm jedoch auch hier keine ihn befriedigende Antwort zuteilward, fuhr er fort:
»Ist es denn möglich, dass ich mich so in meinen Voraussetzungen getäuscht habe?«
»Das haben Sie«, sagte ich offen. Zugleich fühlte ich, wie schroff meine Antwort war. Es entstand eine längere Pause, dann sagte er leise:
»Dann werde ich wohl meine
Begründung
in dieser Sache ändern müssen. Lassen Sie mich darum
bitten,
um diese Vergünstigung, um dieses Privileg, wenn Sie so wollen. Ich bin in diesem Fall sogar bereit, Sie anzuflehen, denn es geht hier nicht um mich, sondern um das Wohl von anderen. Es steht mir leider nicht frei, Ihnen die Gesamtheit meiner Gründe auseinanderzusetzen, aber Sie dürfen überzeugt sein, dass es
gute
Gründe sind, zwingende und selbstlose Gründe, die nur dem höchsten Pflichtbewusstsein entspringen. Könnten sie mir ins Herz schauen, Sir, Sie würden |357| die Gefühle vollkommen begreifen, die mich bewegen. Nein, mehr als das, Sie würden mich unter Ihre besten und treuesten Freunde zählen.« Wieder sah er uns alle scharf an. In mir wuchs die Überzeugung, dass diese rapide Veränderung seines Auftretens nur eine neue Erscheinungsform oder Phase seiner Krankheit war, und ich beschloss, ihn ruhig weiterreden zu lassen, da ich aus Erfahrung wusste, dass er sich am Schluss schließlich doch noch verraten würde, genau wie jeder andere Wahnsinnige. Van Helsing hielt den Blick mit der äußersten Konzentration auf ihn gerichtet, seine Augenbrauen zogen sich förmlich zusammen. Dann redete er Renfield in einer Art und Weise an, die mich in diesem Moment nicht überraschte, die mir aber später, als ich darüber nachdachte, immer erstaunlicher vorkommen sollte:
»Können Sie uns nicht offen die Gründe nennen, die den Wunsch in Ihnen erregen, heute Nacht noch frei zu werden? Ich verspreche Ihnen Folgendes: Wenn Sie mich, einen Fremden, der Ihnen ohne jedes Vorurteil und mit einem aufgeschlossenen Geist gegenübertritt, überzeugen können, so wird Ihnen Dr. Seward auf seine eigene Verantwortung das von Ihnen gewünschte Privileg bewilligen.« Renfield schüttelte traurig den Kopf, und sein Gesicht zeigte eine Miene des schmerzlichen Bedauerns. Der Professor fuhr fort:
»Kommen Sie, Sir, überlegen Sie sich die Sache! Sie erheben Anspruch darauf, als vernünftiger Mann behandelt zu werden, und Sie haben versucht, uns mit Ihrer geistigen Klarheit zu beeindrucken. Sie erwarten von uns, dass wir dies akzeptieren, wo wir doch gute Gründe haben, Ihre Gesundheit anzuzweifeln, da Sie ja noch nicht aus der medizinischen Behandlung entlassen sind. Wenn Sie uns nicht in unserem Bemühen, die richtige Entscheidung zu treffen, unterstützen wollen, wie können wir da der Pflicht nachkommen, die Sie uns auferlegen? Zeigen Sie uns, dass Sie wirklich vernünftig sind, und helfen Sie uns! Nur dann können wir auch Ihnen bei der Erfüllung Ihres Wunsches helfen.« Doch er schüttelte nur wieder den Kopf und entgegnete:
|358| »Dr. van Helsing, ich habe nichts weiter hinzuzufügen. Ihre Argumentation ist stichhaltig, und wenn ich frei wäre zu reden, so würde ich keinen Augenblick zaudern. Aber ich bin in dieser Sache nicht mein eigener Herr, ich kann Sie also nur bitten, mir zu vertrauen. Wenn Sie
Weitere Kostenlose Bücher