Dracula - Stoker, B: Dracula
eingetreten, da sagte er, als hätte er die Frage schon auf den Lippen gehabt:
»Wie ist das nun mit den Seelen?« Ich hatte also mit meiner |393| Mutmaßung recht gehabt, das Unbewusste hatte auch in diesem Irren weitergearbeitet. Ich beschloss, der Sache noch weiter auf den Grund zu gehen. »Was halten Sie denn selbst davon?«, fragte ich ihn. Er antwortete nicht sofort, sondern sah sich nach allen Richtungen hin um, als erwartete er von irgendwoher eine Inspiration.
»Ich will keine Seelen!«, sagte er dann in einem kraftlosen, entschuldigenden Ton. Die Sache schien sich seines Denkens bemächtigt zu haben, und so beschloss ich, mir dies zunutze zu machen – ›zur Grausamkeit zwingt bloße Liebe mich‹ 5 . Ich fragte ihn also:
»Sie lieben das Leben, und Sie wollen das Lebendige?«
»Ja, aber das ist alles in Ordnung. Sie brauchen sich darum keine Sorgen zu machen.«
»Aber«, fragte ich, »wie können wir denn das Leben bekommen, ohne zugleich auch eine Seele zu erhalten?« Dies schien ihn zu verwirren, und so legte ich gleich nach:
»Eine hübsche Himmelfahrt werden Sie einmal haben, wenn die Seelen von zahllosen Fliegen, Spinnen, Vögeln und Katzen rings um Sie herum summen, zwitschern und miauen. Sie haben ihnen schließlich das Leben genommen, da werden Sie dereinst dann wohl auch ihre Seelen ertragen müssen.« Das schien seine Fantasie zu packen, denn er steckte sich die Finger in die Ohren und kniff seine Augen so fest zusammen wie ein kleiner Junge, dem man das Gesicht einseift. Es lag etwas ergreifend Hilfloses in seiner abwehrenden Geste, das mich berührte. Zugleich zeigte es mir, dass ich es hier mit einem Kind zu tun habe – er ist nur ein Kind, mögen seine Züge auch verwittert und die Stoppeln auf seinem Kinn auch grau sein. Offenbar machte er gerade eine Phase mentaler Zerrüttung durch. Da ich wusste, wie fremdartig er die Welt in seinen verschiedenen Gemütslagen interpretierte, wollte ich auch jetzt versuchen, so weit in seine Gedanken |394| einzudringen, wie ich es vermochte. Der erste Schritt dazu konnte nur darin liegen, sein Vertrauen zurückzugewinnen, also fragte ich ihn möglichst laut, damit er es durch seine verschlossenen Ohren auch hören konnte:
»Möchten Sie nicht gern etwas Zucker haben, um wieder Fliegen fangen zu können?« Er schien plötzlich zu erwachen und schüttelte den Kopf. Mit einem Lachen antwortete er:
»Nein, eigentlich nicht. Fliegen sind doch ziemlich armselige Geschöpfe!« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Außerdem will ich nicht, dass ihre Seelen um mich herumsummen.«
»Dann vielleicht Spinnen?«, fuhr ich fort.
»Vergessen Sie die Spinnen! Wofür sollen die denn gut sein? Da ist ja gar nichts dran, um es zu essen oder zu …« – hier unterbrach er sich, ganz als würde er sich plötzlich besinnen, ein verbotenes Thema zu meiden.
›So, so‹, dachte ich, ›das wäre also bereits das zweite Mal, dass er bei dem Wort „trinken“ stockt. Was mag das zu bedeuten haben?‹ Aber auch Renfield schien gemerkt zu haben, dass ihm ein Lapsus unterlaufen war, denn er fuhr eilig fort, als wolle er meine Aufmerksamkeit ablenken:
»Ich habe überhaupt kein Interesse an solchen Dingen. ›Mäus und Ratten und solch Getier‹ 6 , wie Shakespeare sie nennt, sind doch nur Hühnerfutter! Ich bin über jeden derartigen Unsinn hinaus. Sie könnten eher jemanden dazu bringen, mit einem Paar Ess-Stäbchen Moleküle zu verzehren, als mich für die niedere Fleischfresserei zu begeistern! Ich weiß schließlich, was noch alles auf mich wartet!«
»Ich begreife«, sagte ich, »Sie wollen große Dinge, damit Sie Ihre Zähne ordentlich hineinschlagen können? Wie wäre es denn mit einem Elefanten zum Frühstück?«
»Was für einen lächerlichen Blödsinn reden Sie denn da!« Er |395| wurde mir schon wieder zu aufgeweckt, also beschloss ich, ihm gehörig zuzusetzen. »Ich frage mich«, sagte ich nachdenklich, »wie wohl die Seele eines Elefanten beschaffen sein mag.«
Der beabsichtigte Effekt stellte sich ein, denn augenblicklich fiel er von seinem hohen Ross herunter und wurde wieder zum Kind:
»Ich will keine Elefantenseele, überhaupt keine Seele«, jammerte er. Einige Momente saß er niedergeschlagen da. Plötzlich aber sprang er auf, mit funkelnden Augen und allen Anzeichen höchster geistiger Erregung: »Zur Hölle mit Ihnen und Ihren Seelen«, brüllte er. »Warum plagen Sie mich mit den Seelen? Habe ich denn nicht auch so schon genug Kummer und
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