Dracula - Stoker, B: Dracula
Sorgen?« Er sah mich so feindselig an, dass ich jeden Augenblick einen Angriff befürchtete, also gab ich ein kurzes Signal mit meiner Pfeife. Im selben Moment aber wurde er schon wieder ruhig und entschuldigte sich:
»Verzeihen Sie mir, Doktor, ich habe mich vergessen. Sie brauchen keine Hilfe. Ich bin so von Sorgen erfüllt, dass ich leicht reizbar bin. Wenn Sie eine Ahnung von dem Problem hätten, dem ich gegenüberstehe und das ich zu lösen habe, würden Sie mich bemitleiden, mich verstehen und mir verzeihen. Ich bitte Sie, lassen Sie mich nicht in die Zwangsjacke stecken! Ich muss nämlich nachdenken, und denken kann ich nur, wenn mein Körper nicht beengt ist. Ich bin sicher, dass Sie das verstehen!« Er hatte sich ganz offensichtlich wieder in der Gewalt. Als die Pfleger hereinstürmten, beruhigte ich sie daher und schickte sie wieder weg. Renfield sah ihnen nach, und als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, sagte er mit beachtlicher Würde und Freundlichkeit:
»Dr. Seward, Sie haben sehr rücksichtsvoll gegen mich gehandelt. Glauben Sie mir, ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar dafür!« Ich hielt es für das Beste, ihn jetzt in diesem Zustand zu verlassen, und ging. Es ist im Verhalten dieses Mannes etwas, was zu denken gibt. Einzelne seiner Eigenheiten scheinen das zu ergeben, |396| was die amerikanischen Reporter eine »Story« nennen, wenn man sie in den richtigen Zusammenhang zu bringen weiß. Hier sind sie:
Will das Wort »trinken« nicht aussprechen.
Fürchtet sich vor dem Gedanken, mit der »Seele« von irgendetwas belastet zu werden.
Hat keine Sorge, zukünftig ausreichend »Leben« zu besitzen.
Verabscheut die niederen Formen des Lebens, obgleich er fürchtet, von ihren »Seelen« verfolgt zu werden.
Von ihrer Logik her weisen alle diese Punkte in die gleiche Richtung: Er hat irgendeine Art von Zusicherung, dass er zu einer höheren Lebensform aufsteigen wird. Zugleich fürchtet er aber die Konsequenz dieser Transformation – die Last einer Seele. Es ist also ein menschliches Leben, auf das er es abgesehen hat … Und die Zusicherung? – Gütiger Gott, der Graf muss bei ihm gewesen sein, uns stehen neue Schrecken bevor!
Später
Ich ging nach meiner Runde zu van Helsing und berichtet ihm von meinem Verdacht. Er wurde sehr ernst, und nachdem er eine Weile über die Sache nachgedacht hatte, bat er mich, ihn zu Renfield zu bringen, was ich tat. Als wir an dessen Tür kamen, hörten wir ihn innen vergnügt singen, wie er es früher manchmal getan hatte, zu Zeiten, die nun lange zurückzuliegen scheinen. Bei unserem Eintritt bemerkten wir zu unserem Erstaunen, dass er nun doch wieder seinen Zucker ausgestreut hatte, und die Fliegen, die schon herbstmüde waren, summten herein. Ich versuchte, ihn über das Thema unseres letzten Gespräches zum Reden zu bringen, aber er ging nicht darauf ein, sondern sang ruhig weiter, als wären wir gar nicht vorhanden. Er hatte ein Stückchen Papier in der Hand, das er sorgfältig zusammenfaltete. Um nichts klüger, als wir gekommen waren, zogen wir uns wieder zurück.
|397| Jedenfalls ist das eine ganz absonderliche Geschichte, und wir müssen heute Nacht sehr gut auf ihn aufpassen.
Brief von Mitchell, Sons & Candy an Lord Godalming
1. Oktober
Mylord,
es ist uns eine außerordentliche Ehre, Ihnen zu Diensten zu sein. Wir freuen uns, Euer Lordschaft gemäß dem uns durch Mr. Harker übermittelten Auftrag Nachfolgendes über den Kauf und Verkauf des Hauses No. 347, Piccadilly, mitteilen zu können: Die ursprünglichen Verkäufer sind die Testamentsvollstrecker des verstorbenen Mr. Archibald Winter-Suffield. Der Käufer ist ein ausländischer Adliger, ein Count de Ville 7 , der das Geschäft persönlich tätigte, indem er den Kaufpreis »bar auf den Tisch legte«, wenn Euer Lordschaft uns diesen vulgären Ausdruck anzuwenden gestatten. Darüber hinaus ist uns nichts weiter über den Käufer bekannt.
Wir sind, Mylord,
Ihre ergebensten Diener,
Mitchell, Sons & Candy
Dr. Sewards Tagebuch
2. Oktober
Ich habe die letzte Nacht einen Mann im Korridor postiert und ihn angewiesen, auf jedes Geräusch aus Renfields Raum zu achten und mich augenblicklich zu informieren, sobald ihm etwas auch nur im Geringsten seltsam vorkomme. Nach dem gestrigen Abendessen hatten wir Männer uns alle im Arbeitszimmer versammelt, |398| Mrs. Harker war zu Bett gegangen, und wir besprachen die Unternehmungen und Erlebnisse des Tages. Harker war der Einzige,
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