Dracula - Stoker, B: Dracula
sich meine Haare sträubten, und mein Herz schien stillzustehen.
Der Mond schien so hell, dass er das Zimmer sogar durch die dicken gelben Vorhänge hindurch noch hinreichend erleuchtete. Auf der Fensterseite des Bettes lag Jonathan Harker; sein |410| Gesicht war gerötet und sein Atem ging schwer, als wäre er betäubt. Am vorderen Bettrand kniete die weiße Gestalt seiner Frau, und neben ihr stand ein großer, hagerer Mann, der vollkommen schwarz gekleidet war. Sein Gesicht war abgewandt, aber als er sich umdrehte, erkannten wir zweifelsfrei den Grafen, sogar die Narbe auf seiner Stirn war zu sehen. Mit seiner Linken hatte er Mrs. Harkers Hände gepackt und mit weit ausgestrecktem Arm emporgehoben; seine Rechte umklammerte ihren Nacken und drückte ihr Gesicht fest auf seine Brust. Ihr weißes Nachthemd war mit Blut verschmiert, und Blut rann auch als ein feiner Faden über die Brust des Grafen, die unter seiner aufgerissenen Kleidung zu sehen war. Die Figur hatte eine schreckliche Ähnlichkeit mit der Lage eines kleinen Kätzchens, dem ein Kind die Nase in die Milch drückt, um es zum Trinken zu zwingen. Als wir ins Zimmer hineinstürzten, fuhr der Graf herum, und sein dämonischer Blick, von dem ich schon so viel in den Berichten gelesen hatte, richtete sich auf uns. Seine Augen flammten in roter Höllenglut, die weiten Löcher der weißen Adlernase blähten sich auf und vibrierten, und die spitzen weißen Zähne, die hinter den vollen Lippen des bluttriefenden Mundes sichtbar wurden, schlugen aufeinander wie das Maul eines wilden Tieres. Mit einem mächtigen Stoß warf er sein Opfer aufs Bett zurück, dass es sich überschlug, als rollte es von einem Berg herab, und stürzte sich auf uns. Doch da hatte der Professor sich schon aufgerafft und streckte dem Vampir den Umschlag entgegen, in dem sich die heilige Hostie befand. Der Graf blieb sofort stehen, genau, wie es Lucy vor der Gruft getan hatte, und zog sich dann langsam zurück. Immer weiter und weiter wich er vor uns aus, die wir ihn mit unseren hoch erhobenen Kruzifixen bedrängten. Dann verdunkelte sich für einen Augenblick der Mond, wahrscheinlich zog eine Wolke vor ihm vorüber, und als dank Quinceys Streichholz eine Gaslampe aufflammte, sahen wir nichts mehr im Raum als einen flüchtigen Dampf. Dieser verschwand, ehe wir uns noch zu fassen vermochten, durch den Spalt unter |411| der Tür, die im Zurückschwingen nach unserer gewaltsamen Öffnung wieder zugeschlagen war. Van Helsing, Art und ich sprangen auf Mrs. Harker zu, die in diesem Moment wieder zu Atem gekommen war und einen so gellenden, ohrenbetäubenden und verzweifelten Schrei ausstieß, dass er mir wohl bis ans Ende meiner Tage in den Ohren klingen wird. Hilflos und zerrüttet lag sie da: Ihr Gesicht war leichenblass und an Lippen, Wangen und Kinn mit Blut beschmiert; von ihrem Hals floss ein dünner, schwarzer Strom herunter, und ihre Augen zeigten das reine Entsetzen. Dann schlug sie ihre Hände vors Gesicht, die noch rot von dem furchtbaren Klammergriff des Grafen waren. Ein leises, klägliches Weinen ergriff sie und schüttelte ihren Körper, sodass der vorangegangene Schrei nur als kurzer, keineswegs befreiender Ausdruck ihres unendlichen Leides erschien. Van Helsing trat näher und zog ihr behutsam eine Decke über den Leib, während Art, nachdem er einen kurzen, verzweifelten Blick auf ihr Gesicht geworfen hatte, aus dem Zimmer stürzte. Quincey folgte ihm, und van Helsing flüsterte mir zu:
»Für die arme Madame Mina können wir erst etwas tun, wenn sie sich selbst wieder einigermaßen gefangen hat. Jonathan aber ist nur betäubt, wir wissen ja, dass der Vampir so etwas hervorrufen kann. Ich werde ihn wecken!« Er tauchte das Ende eines Handtuches in kaltes Wasser und begann dann, ihm den Zipfel ins Gesicht zu schlagen, während Mrs. Harker ihr Antlitz noch immer hinter ihren Händen verborgen hielt und herzergreifend schluchzte. Ich zog den Vorhang auf und sah aus dem Fenster. Im hellen Mondlicht konnte ich Quincey Morris erkennen, der über den Rasen lief und sich im Schatten einer großen Eibe versteckte. Ich fragte mich gerade, warum er dies wohl tun mochte, da hörte ich plötzlich einen Schrei Harkers, der halb zu sich gekommen war, und begab mich ans Bett. Auch auf seinem Gesicht lag, wie nicht anders zu erwarten, das reine Entsetzen. Im ersten Augenblick schien er noch etwas betäubt, dann aber richtete er sich auf, als sei ihm plötzlich das volle Bewusstsein |412|
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