Dracula - Stoker, B: Dracula
schlafen wollte, und bemühte mich also ernstlich. Jedenfalls ist der Schlaf dann wohl rasch gekommen, denn ich erinnere mich an gar nichts mehr. Jonathan, der nach Hause kam, störte mich nicht in meiner Ruhe, denn als ich wieder erwachte, lag er an meiner Seite. Im Zimmer aber war derselbe dünne Nebel, den ich schon früher einmal bemerkt hatte – ich weiß gar nicht, ob Sie darüber informiert sind; Sie werden Näheres in meinem Tagebuch finden, das ich Ihnen nachher zu lesen gebe. Mich ergriff dieselbe Beklemmung wie beim letzten Mal, und ich hatte wieder so ein Gefühl, als wäre etwas Fremdes im Raum. Ich wollte Jonathan wecken, aber er schlief so fest, dass man meinen konnte, er hätte an meiner Stelle den Schlaftrunk genommen – ich rüttelte ihn, aber es war aussichtslos. Nun bekam ich wirklich Angst, und ich blickte mich furchtsam um … Da war das Grauen! Neben unserem Bett, als sei er aus dem Nebel herausgestiegen, oder besser: als hätte der Nebel seine Gestalt angenommen, stand ein großer, schlanker Mann, ganz in Schwarz gekleidet. Ich erkannte ihn sofort aus den Beschreibungen. Das wachsbleiche Gesicht, die hohe Adlernase, die im schwachen Licht wie eine dünne, weiße Linie erschien, der geöffnete rote Mund mit den spitzen weißen Zähnen und die roten Augen, die ich damals bei Sonnenuntergang vor St. |417| Mary’s in Whitby gesehen zu haben glaubte. Da war sogar die rote Narbe auf seiner Stirn, die Jonathan ihm mit dem Spaten beigebracht hatte. Einen Augenblick stand mir das Herz still. Ich wollte schreien, aber ich war vollkommen gelähmt. In diese Pause hinein zischte er in scharfem, durchdringendem Flüsterton, auf Jonathan deutend:
›Schweig! Wenn du auch nur einen Laut von dir gibst, dann nehme ich den da und zerschmettere ihm den Kopf vor deinen Augen!‹ Ich war zu entsetzt und verstört, um irgendetwas zu sagen oder zu tun. Mit einem höhnischen Grinsen legte er eine Hand auf meine Schulter, zog mich zu sich heran, riss mir mit der anderen Hand das Nachtgewand am Hals auf und sagte: ›Zu erst eine kleine Erfrischung, um mich für meine Umstände zu entschädigen. Du wirst wie immer still sein; es ist ja nicht das erste oder zweite Mal, dass deine Venen meinen Appetit befriedigen!‹ Ich war verstört, aber, so seltsam es klingt, ich
wollte
ihn nicht aufhalten. Es ist dies wohl ein Teil des schrecklichen Fluches, der sein Opfer trifft, sobald er es berührt. Und dann – oh mein Gott, mein Gott, erbarme dich meiner! –, dann presste er seine stinkenden Lippen auf meine Kehle!« Ihr Gatte stöhnte wieder, sie umklammerte seine Hand noch fester und sah ihn so mitleidsvoll an, als wäre er das Opfer. Dann fuhr sie fort:
»Ich fühlte meine Kraft dahinschwinden und war in einer halben Ohnmacht. Wie lange das Furchtbare währte, weiß ich nicht, aber es schien mir, dass sehr viel Zeit verging, bevor er seinen fauligen, widerlichen, grinsenden Mund von mir nahm. Ich sah, wie er von frischem Blut triefte …« Die Erinnerung schien sie zu überwältigen, und sie sank zusammen. Hätte der Arm ihres Mannes sie nicht gestützt, so wäre sie sicher umgefallen. Mit großer Anstrengung raffte sie sich aber sogleich wieder auf und erzählte weiter:
»Dann sagte er höhnisch zu mir: ›Und
du
wolltest es also mit mir aufnehmen? Du wolltest diesen Männern dabei helfen, Jagd auf mich zu machen und meine Pläne zu vereiteln? Jetzt weißt du, |418| was es heißt, mir zu begegnen! Die anderen werden es auch bald wissen, eine Ahnung haben sie schon. Sie hätten sich ihre Kräfte besser für ihr eigenes Haus aufsparen sollen, denn ich habe ihre Pläne untergraben, während sie mich überlisten wollten – mich, der ich schon Jahrhunderte vor ihrer Geburt ganze Völkerscharen kommandiert habe, Ränke für sie geschmiedet und Schlachten geschlagen habe! Du aber, die du ihnen allen das Liebste bist, du gehörst nun mir! Du bist jetzt Fleisch von meinem Fleisch, Blut von meinem Blut, bist meinesgleichen! 2 Eine Weile wirst du noch meine freigebige Weinpresse sein, danach aber meine Gefährtin und Helferin. Es wird sich für dich lohnen: Alle deine Freunde sollen dir zur Stillung deiner Bedürfnisse dienen! Zuvor aber musst du bestraft werden für das, was du getan hast! Du hast dich daran beteiligt, meine Pläne zu hintertreiben – nun wirst du mir aufs Wort gehorchen. Wenn meine Gedanken sagen ‚Komm!‘, so wirst du Land und Wasser überqueren, um mir zu dienen. Dafür nimm dies!‹ Mit diesen Worten
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