Dracula - Stoker, B: Dracula
zwischen dem Fluss und den Karpaten zu überwinden. Auf dem Fluss lässt es sich auch des Nachts mit einer guten Geschwindigkeit fahren, denn er ist nirgends zu flach, und die Ufer sind weit genug entfernt. Lord Godalming forderte mich auf, ein wenig zu schlafen, denn es sei gegenwärtig völlig hinreichend, wenn einer |519| von uns beiden wache. Aber ich kann nicht schlafen. Wie wäre das denkbar, da ich weiß, in welcher Gefahr mein Liebling schwebt, und welch schrecklichem Ort sie sich nähert … Mein einziger Trost ist, dass wir alle in Gottes Hand sind. Allerdings stirbt man für diesen Glauben leichter, als dass man mit ihm lebt. Mr. Morris und Dr. Seward haben ihren langen Ritt angetreten, noch bevor wir abfuhren. Sie beabsichtigen, sich auf dem rechten Ufer zu halten, und zwar weit genug vom Fluss entfernt, um von den Höhen aus längere Strecken übersehen zu können und sich von den Windungen unabhängig zu machen. Sie haben für die ersten Etappen zwei Leute engagiert, um die Reservepferde zu reiten und zu führen, von denen sie vier dabei haben. Auf diese Weise erregen sie weniger Aufmerksamkeit. Nachdem sie die Leute entlassen haben, was in Kürze der Fall sein wird, müssen sie die Pferde dann selbst übernehmen. Wenn es nötig werden sollte, unsere Kräfte zu vereinigen, sind also ausreichend Pferde für unsere ganze Gruppe vorhanden. Einer der Sättel ist sogar derart, dass er bei Bedarf rasch in einen Damensattel für Mina verwandelt werden kann.
Es ist ein wildes Abenteuer, in das wir uns gestürzt haben. Wir eilen durch die Dunkelheit, die Kälte des Flusses steigt herauf und legt sich über uns, und die Geräusche der Nacht klingen wie geheimnisvolle Stimmen. Alles kehrt zurück. Wir treiben auf unbekannten Wegen unbekannten Zielen entgegen, in eine Welt finsterer und schrecklicher Dinge. Godalming schließt die Kesseltür …
31. Oktober
Wir eilen noch immer dahin. Der Tag ist angebrochen und Godalming schläft, ich halte Wache. Der Morgen ist bitterkalt, und obwohl wir in dicke Pelze gehüllt sind, tut uns die Hitze des Kessels wohl. Bis jetzt haben wir lediglich ein paar offene Boote überholt, aber keines von ihnen hatte eine Kiste oder andere Ladung von der Größe an Bord, wie wir sie suchen. Die Schiffer erschraken |520| jedes Mal, wenn das Licht unserer elektrischen Lampe sie anstrahlte. Sie sanken dann auf die Knie und beteten.
1. November, abends
Den ganzen Tag nichts Neues, es war nichts zu entdecken, was dem Gesuchten auch nur ähnlich gewesen wäre. Wir sind jetzt in die Bistritza übergewechselt, wenn unsere Annahmen falsch waren, dann ist unsere Chance nun vertan. Zahllose Boote haben wir überholt, große und kleine. Heute Vormittag hielt man uns einmal für ein Regierungsschiff und grüßte uns entsprechend. Das brachte uns auf den Gedanken, auf diese Weise eventuelle Schwierigkeiten zu umgehen, und wir beschafften uns in Fundu, wo sich die Bistritza mit dem Sereth vereinigt, eine rumänische Flagge, die nun recht auffällig im Wind flattert. Bei sämtlichen Booten, die wir seitdem inspiziert haben, war uns dieser Trick von großem Nutzen. Man begegnete uns allenthalben mit der größten Bereitwilligkeit, und wir trafen nicht auf den geringsten Widerstand, was wir auch fragen oder tun mochten. Einige Slowaken haben uns berichtet, dass sie von einem großen Boot überholt worden seien, dessen außergewöhnliche Eile und doppelte Rudermannschaft ihnen aufgefallen war. Das sei aber schon gewesen, bevor sie Fundu erreicht hatten, sie konnten uns also nicht sagen, ob dieses Boot in die Bistritza eingebogen oder weiter den Sereth hinaufgefahren war. In Fundu selbst hatten wir von dieser Sache nichts gehört, deshalb mussten wir hoffen, dass das Fahrzeug dort in der Nacht vorbeigekommen war. Ich bin sehr müde, vielleicht trägt auch die Kälte dazu bei, jedenfalls brauche ich dringend Ruhe. Godalming besteht darauf, die erste Wache zu übernehmen. Gott segne ihn für all das Gute, das er mir und meiner lieben Mina tut.
2. November, morgens
Es ist heller Tag. Der gute Godalming hat mich nicht geweckt, er sagte, dies wäre eine Sünde gewesen, da ich so friedlich geschlummert |521| und wenigstens für ein paar Stunden alle meine Sorgen vergessen hätte. Ich selbst mache mir Vorwürfe, dass ich in meinem geradezu verwerflichen Egoismus so lange geschlafen und ihn die ganze Nacht allein habe wachen lassen. Allerdings hatte er recht: Ich fühle mich heute Morgen wie
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