Dracula - Stoker, B: Dracula
dessen Studium mich am meisten interessiert. |92| Er ist so wunderlich in seinen Ideen, dabei aber so verschieden von den gewöhnlichen Irren, dass ich mich zu dem Versuch entschloss, so tief wie möglich in seine Vorstellungswelt einzudringen. Heute war es mir, als sei ich näher als je daran, seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen.
Ich befragte ihn eingehender, als es sonst meine Gewohnheit ist, mit der Absicht, die Inhalte seiner Halluzinationen zu erfassen. In der Art meines Verfahrens lag, wie ich jetzt einsehe, eine gewisse Grausamkeit: Ich habe versucht, ihn in das Zentrum seines Wahns zu treiben, ein Vorgehen, das ich sonst meide wie den Schlund der Hölle.
( Anm.
Unter welchen Umständen würde ich den Abgrund der Hölle eigentlich
nicht
vermeiden?)
Omnia venalia Romæ
. 3 Auch die Hölle ist käuflich.
Verb. Sap. 4
Wenn mein Instinkt hier richtig liegt, so ist es von wissenschaftlichem Interesse, das von Anfang an festzuhalten, ich fange also am besten gleich damit an:
R. M. Renfield,
ætat
5 59. Sanguinisches Temperament. Große körperliche Kraft, krankhaft reizbar, Perioden des Wahnsinns auf der Basis einer fixen Idee, der ich nicht auf die Spur kommen kann. Ich schicke voraus, dass sein sanguinisches Temperament im Zusammenwirken mit äußeren störenden Einflüssen seelisch erschöpfende Anfälle auslöst. Vielleicht ein gefährlicher Mann, wahrscheinlich gefährlich, wenn sein Dämmerzustand eintritt. Bei normalen Menschen ist die Vorsicht ein ebenso sicherer Schutz gegen sich selbst wie gegen Feinde. Was ich über die Sache bis jetzt denke, ist, dass, wenn sein Selbstbewusstsein im Mittelpunkt steht, die zentripetalen und die zentrifugalen Kräfte ausbalanciert sind. Wird aus irgendeinem Grund dieser Mittelpunkt verschoben, so überwiegen die letztgenannten Kräfte, und es kann nur ein Anfall oder eine ganze Reihe von Anfällen einen Ausgleich schaffen.
|93| Brief von Quincey P. Morris
an Hon. Arthur Holmwood
25. Mai
Bester Art,
wir haben uns am Lagerfeuer in den Prärien lange Geschichten erzählt und uns nach dem Landungsversuch auf den Marquesas-Inseln gegenseitig die Wunden verbunden. Am Strand des Titicacasees haben wir miteinander angestoßen.
Nun gilt es etwas Wichtiges zu erzählen, andere Wunden zu verbinden und neue Flaschen zu leeren. Wollen wir das morgen Abend an meinem Lagerfeuer besorgen? Ich zögere nicht, Dich einzuladen, weil ich weiß, dass eine gewisse Dame morgen Abend zum Dinner eingeladen ist, Du also frei bist. Noch einer wird dort sein, unser alter Kumpel aus Korea Jack 6 Seward. Er wird ganz sicher kommen, denn wir beide wollen unsere Tränen im Weinglas vermischen und von ganzem Herzen auf das Wohl des glücklichsten Mannes unter der Sonne trinken, der sich das edelste Herz gewann, das Gott je schuf.
Wir versprechen Dir ein herzliches Willkommen, eine liebenswürdige Begrüßung und Trinksprüche, so ehrlich wie Deine eigene rechte Hand. Und wir schwören Dir, Dich hinterher nach Hause zu tragen, falls Du auf ein gewisses Augenpaar zu viele Gläser leeren solltest. Komm!
Stets der Deine,
Quincey P. Morris
|94| Telegramm von Arthur Holmwood an Quincey P. Morris
26. Mai
Zählt auf mich. Ich bringe Neuigkeiten, dass Euch die Ohren klingeln werden.
Art
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|95| SECHSTES KAPITEL
Mina Murrays Tagebuch
Whitby, den 24. Juli
Lucy holte mich am Bahnhof ab. Sie sah schöner aus als je zuvor, und wir fuhren zusammen zum Haus am Crescent, wo sie Zimmer bewohnen. Es ist ein reizendes Fleckchen Erde. Der kleine Fluss, der Esk, kommt durch ein tiefes Tal herunter, das sich in der Nähe des Hafens erweitert. Ein großer Viadukt führt darüber hinweg, mit hohen Steinpfeilern, durch welche sich eine entzückende Aussicht auf die Landschaft eröffnet. Das Tal ist lieblich grün und so tief eingeschnitten, dass man von den Hängen aus einfach darüber hinwegschaut, wenn man nicht bis direkt an den Rand tritt. Die Häuser der Altstadt auf der gegenüberliegenden Seite sind alle mit roten Dachziegeln gedeckt und übereinandergeschachtelt, ganz wie es auf Bildern von Nürnberg aussieht. Über der Stadt erhebt sich die Ruine der Whitby Abbey 1 , die von den Dänen zerstört wurde und in der der Teil von »Mar mion « 2 sich abspielt, in dem das Mädchen eingemauert wird. Es ist eine sehr schöne Ruine von ungeheurer Ausdehnung und voll von herrlichen, romantischen Plätzen, von denen die Sage geht, dass sich öfter eine Weiße Frau sehen lasse.
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