Dracula - Stoker, B: Dracula
sehr liebt, was in der Tat nicht zu verwundern ist. Dann fuhr sie halb träumerisch fort, gleichsam als müsse sie sich selbst erst besinnen:
»Ich habe wohl nicht wirklich geträumt, denn alles schien mir so lebendig. Ich hatte nur den Wunsch, hier auf diesem Platz zu sein, warum, das weiß ich nicht. Vor irgendetwas fürchtete ich mich auch, aber ich weiß nicht, wovor. Ich erinnere mich, obgleich ich wahrscheinlich im tiefen Schlaf war, dass ich durch die Straßen und über die Brücke gelaufen bin. Ein Fisch sprang gerade hoch, als ich vorbeikam, und ich lehnte mich über das Geländer, um nach ihm zu sehen. Als ich die Stufen betrat, hörte ich viele Hunde heulen – die ganze Stadt schien plötzlich voll heulender Hunde zu sein. Dann erinnere ich mich dunkel an etwas Langes, Schwarzes mit roten Augen, wie ich sie neulich beim Sonnenuntergang wiederzuerkennen vermeinte, und dass mich etwas Süßes und zugleich unendlich Bitteres überkam. Es kam mir vor, als würde ich in tiefes, grünes Wasser versinken, und es war ein Singen in meinen Ohren, wie dies bei Ertrinkenden vorkommen soll. Darauf hatte ich ein Gefühl, als ginge etwas von mir weg, als würde meine Seele meinen Körper verlassen und davonfliegen. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich plötzlich den Westleuchtturm tief unter mir sah und dass ich Todesangst empfand, da alles um mich herum wie in einem Erdbeben zu taumeln begann. Dann kam ich zu mir und erkannte, dass du mich schütteltest. Zuerst sah ich dir nur dabei zu, dann konnte ich auch deine Hände spüren.«
Hier begann sie zu lachen. Mir war leicht unheimlich geworden, während ich atemlos ihrer Erzählung lauschte. Ich bemühte mich daher, sie von diesem Thema wieder abzubringen, und in unseren weiteren Gesprächen war Lucy wieder ganz sie selbst. Als wir heimkamen, hatte die frische Luft wohl günstig auf sie eingewirkt, denn ihre Wangen schienen in der Tat rosiger. Ihre Mutter war glücklich, sie so zu sehen, und wir verbrachten zusammen einen sehr frohen Abend.
|147| 19. August
Freude, Freude, Freude! Und doch nicht ungetrübte Freude. Endlich habe ich Nachricht über Jonathan! Der Ärmste ist erkrankt, deshalb konnte und kann er auch nicht schreiben. Dies ist keine Vermutung, sondern ich habe Gewissheit: Mr. Hawkins hat mir nämlich eine Mitteilung weitergeleitet und selbst einige sehr freundliche Worte beigefügt. Ich werde morgen früh abreisen und zu Jonathan eilen, um mich, wenn es nötig ist, an seiner Pflege zu beteiligen und ihn dann nach Hause bringen. Mr. Hawkins meint, es wäre das Beste, wir ließen uns gleich dort trauen. Ich musste über den Brief der Krankenschwester dermaßen weinen, dass er ganz nass ist; ich fühle es an meiner Brust, wo ich ihn trage. Wie Jonathan in meinem Herzen ist, so soll dieser Brief über meinem Herzen sein. Meine Reise ist schon geplant und das Gepäck bereit. Ich nehme vorerst nur ein zweites Kleid zum Wechseln mit. Lucy wird meinen Koffer dann mit nach London nehmen und ihn so lange aufbewahren, bis ich danach schicken lasse. Schließlich kann es sein, dass … Nein, ich darf nicht weiterschreiben, ich muss es erst Jonathan sagen, meinem Gemahl. Der Brief, den er gesehen und berührt hat, wird mich trösten, bis ich endlich bei ihm bin.
Brief von Schwester Agatha, Hospital St. Joseph und Maria,
Budapest, an Miss Wilhelmina Murray
12. August
Wertes Fräulein,
ich schreibe Ihnen auf Wunsch des Herrn Jonathan Harker, der selbst noch nicht kräftig genug dazu ist, obgleich seine Heilung Fortschritte macht; wollen wir Gott und dem Hl. Joseph und der Hl. Maria dafür danken. Er befindet sich seit etwa sechs Wochen in unserer Pflege, denn er leidet an einem heftigen Nervenfieber. Er bittet mich, Ihnen seine Grüße zu senden und Ihnen |148| mitzuteilen, dass er mit gleicher Post einen durch mich geschriebenen Brief an Mr. Peter Hawkins, Exeter, gerichtet habe, worin er ihn unter dem Ausdruck seiner Ergebenheit um Entschuldigung für sein langes Ausbleiben bittet und ihm mitteilt, dass der Auftrag ausgeführt ist. Er ersucht noch um einige Wochen Urlaub, um sich in unserem Sanatorium völlig erholen zu können, und verspricht dann zurückzukehren. Er hat mich überdies gebeten, Ihnen mitzuteilen, dass er nicht genügend Geld bei sich habe und gerne seinen hiesigen Aufenthalt bezahlen möchte, um nicht andere, die der Hilfe dringender bedürfen, zu benachteiligen. Ich bin mit Grüßen und warmen Segenswünschen,
Ihre Schwester
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