Dracula - Stoker, B: Dracula
überdies ist er in |153| der gepolsterten Zelle an eine Kette geschlossen. Sein Gebrüll ist furchterregend, aber die Pausen dazwischen sind noch entsetzlicher, denn in ihnen heckt er wahrscheinlich Mordpläne aus …
Eben gerade sprach er die ersten zusammenhängenden Worte seit seiner Festnahme:
»Ich will mich gedulden, Meister. Die Zeit wird kommen – kommen – kommen!«
Damit ließ ich es bewenden und begab mich zurück. Zu Bett zu gehen war ich zunächst noch zu erregt, aber mein Tagebuch hat mich mittlerweile beruhigt. Ich denke, nun kann ich schlafen.
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|154| NEUNTES KAPITEL
Brief von Mina Harker an Lucy Westenra
Budapest, den 24. August
Meine liebste Lucy,
ich weiß, Du wirst neugierig sein zu erfahren, was sich ereignet hat, seit wir uns in Whitby verabschiedet haben. Also, meine Liebe, ich kam wohlbehalten nach Hull, bestieg das Schiff nach Hamburg und reiste von dort aus mit dem Zug weiter bis hierher. Ich kann mich kaum noch an die lange Reise erinnern, außer daran, dass ich ununterbrochen daran dachte, nun endlich Jonathan wiederzusehen. Und da dessen Pflege in der kommenden Zeit mir sicher einiges abverlangen wird, versuchte ich unterwegs so viel Schlaf wie möglich zu bekommen. … Ich fand meinen Liebsten schrecklich mager, bleich und schwach vor. Alle Entschlossenheit ist aus seinen lieben Augen entschwunden, und die ruhige Würde, die auf seinem Gesicht lag und von der ich Dir so oft vorgeschwärmt habe, ist gänzlich dahin. Er ist nur noch ein Schatten seiner selbst, und er kann sich an absolut nichts mehr erinnern, was ihm in den vergangenen Wochen widerfahren ist. Zumindest hat er mir dies versichert, und ich hüte mich davor, weiter in ihn zu dringen. Schließlich hat er einen schrecklichen Schock erlitten, sodass ein Auffrischen der Erinnerungen für seinen armen Verstand die Gefahr eines Rückfalls mit sich bringen könnte. Schwester Agatha, ein gutes Geschöpf und die geborene Pflegerin, sagte mir, dass er von schauerlichen Dingen gesprochen habe, als er noch im Delirium lag. Ich bat sie, mir einiges davon zu erzählen, aber sie bekreuzigte sich und beteuerte mir, sie würde nie darüber sprechen – die Fantasien Kranker seien heilige Geheimnisse, und die Pflegerinnen, die sie infolge |155| ihres Berufes zu hören bekommen, müssten sie als solche respektieren. Sie ist wirklich eine gute Seele. Als sie am nächsten Tag bemerkte, dass ich mir noch immer darüber Sorgen machte, kam sie von alleine auf das Thema zurück, beteuerte erneut, dass sie niemals von dem sprechen werde, was mein armer Schatz in seinen Fieberträumen gesehen hatte, und beruhigte mich mit den Worten: »Meine Liebe, ich kann Ihnen immerhin versichern, dass es nichts war, wegen dessen er sich zu schämen hätte, und Sie, die Sie seine Frau werden wollen, brauchen sich gar nichts Schlimmes dabei zu denken. Er hat Sie niemals vergessen, und auch nicht das, was er Ihnen schuldig ist. Er hatte Furcht vor so schrecklichen und gewaltigen Dingen, wie sie kein Sterblicher zu ertragen vermag.« Ich glaube gar, die gute Seele hielt mich für eifersüchtig und nahm an, dass meine Befürchtungen dahin gehen würden, dass mein armer Geliebter sich in irgendein anderes Mädchen verliebt haben könnte. Was für eine Idee! – Und doch, Liebe, lass Dir flüstern, dass mich ein freudiges Zucken durchlief, als ich sicher wusste, dass keine andere Frau an seiner Krankheit die Schuld trägt. Ich sitze gerade an seinem Bett und kann ihm ins Gesicht sehen, während er schläft. Jetzt wacht er auf …
Als er erwacht war, bat er mich um seinen Mantel, da er etwas aus der Tasche nehmen wollte. Ich fragte Schwester Agatha danach, und diese brachte ihm alle seine Sachen. Ich sah darunter auch ein Notizbuch und wollte ihn eben bitten, mich einen Blick hineinwerfen zu lassen, denn sicher ist darin ein Hinweis auf seine rätselhafte Krankheit zu finden. Aber er musste mir meinen Wunsch schon angesehen haben, bevor ich ihn noch ausgesprochen hatte, denn er schickte mich an das Fenster, da er einen Augenblick allein sein wollte. Dann rief er mich wieder zu sich, und als ich kam, hatte er die Hand auf dem Notizbuch und sagte sehr feierlich zu mir:
»Wilhelmina …« – ich wusste sofort, dass es ihm sehr ernst war, denn er hatte mich seit seinem Heiratsantrag nicht mehr mit |156| vollem Namen angesprochen – »meine Liebste, du kennst meine Anschauungen über das Vertrauen zwischen Mann und Frau. Es soll kein
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