Dracula - Stoker, B: Dracula
bereits drei Gründe zur Rückkehr: unsere Freundschaft, die junge Lady und mein wissenschaftliches Interesse an diesem Fall.«
Wie bereits erwähnt, wollte er mir keine weiteren Erklärungen geben, selbst dann nicht, als wir alleine waren. Nun, mein lieber Art, weißt Du also genauso viel wie ich. Ich kümmere mich. Zugleich hoffe ich, dass auch Dein lieber Vater sich wieder auf dem Weg der Besserung befinden möge. Es muss schlimm für Dich sein, alter Kamerad, in der Mitte zwischen diesen beiden Kranken, die Dir so teuer sind. Ich kenne Dein Pflichtgefühl Deinem Vater gegenüber, und Du tust recht daran, bei ihm zu sein. Sei versichert: Sollte es unumgänglich sein, dass Du zu Lucy kommst, so gebe ich Dir Nachricht. Sei also nicht überbesorgt, denn ich werde Dich auf dem Laufenden halten.
Dr. Sewards Tagebuch
4. September
Der Zoophagus-Patient weiß unser Interesse an ihm wachzuhalten. Er hatte nur einen Anfall, und zwar gestern zu einer ganz ungewöhnlichen |171| Zeit. Kurz bevor es Mittag schlug, wurde er unruhig. Der Pfleger kannte die Symptome und forderte augenblicklich Unterstützung an. Zum Glück waren Leute in der Nähe und rechtzeitig bei ihm, denn mit dem zwölften Glockenschlag wurde der Patient dermaßen wild, dass die vereinten Kräfte gerade so ausreichten, ihn zu halten.
Nach etwa fünf Minuten wurde er jedoch wieder ruhiger und versank schließlich in eine Art Melancholie, die noch immer andauert. Der Pfleger erzählte mir, dass der Patient entsetzlich geschrien habe. Als ich ankam, hatte ich alle Hände voll zu tun, denn einige andere Patienten sind mittlerweile ganz krank vor Angst. Ich kann diese Wirkung gut begreifen, denn das Gebrüll ging selbst mir nahe, der ich doch in ziemlicher Entfernung weilte. Nun ist in unserer Einrichtung die Zeit der Mittagsruhe, und mein Patient sitzt brütend in einer Ecke, mit einem verstörten, düsteren, wehmütigen Ausdruck im Gesicht, der allenfalls etwas andeutet, jedoch nichts aussagt. Ich kann ihn jedenfalls nicht enträtseln.
Später
Wieder eine Veränderung an meinem Patienten. Um fünf Uhr sah ich nach ihm und fand ihn so glücklich und vergnügt, wie er sonst zu sein pflegt. Er fing Fliegen und aß sie auf, wobei er seine Fänge durch kleine Kerben aufzeichnete, die er mit seinen Nägeln in den Türpfosten zwischen der Polsterung einritzte. Als er mich erblickte, entschuldigte er sich wegen seines schlechten Verhaltens und bat mich demütig und schmeichlerisch, ihn in seine Zelle zurückbringen zu lassen und ihm sein Notizbuch zurückzugeben. Ich hielt es für nützlich, ihn in gute Laune zu versetzen, und so ist er nun bei geöffneten Fenstern in seiner alten Zelle. Er hat seine für den Tee bestimmte Zuckerportion auf dem Fensterbrett ausgestreut und erbeutet damit eine große Anzahl Fliegen. Allerdings isst er sie jetzt nicht mehr, sondern sammelt sie wie zuvor in einer Schachtel und späht bereits in allen |172| Winkeln herum, um eine Spinne ausfindig zu machen. Ich versuchte, einiges über die letzten Tage aus ihm herauszubringen, da irgendein Anhaltspunkt bezüglich seiner Ideen mir von großem Nutzen wäre, aber er war nicht zum Sprechen zu bewegen. Eine Weile sah er sehr betrübt aus, dann sagte er mit tonloser Stimme, als spräche er mehr zu sich selbst als zu mir:
»Alles vorbei! Alles vorbei! Er hat mich im Stich gelassen. Keine Hoffnung mehr für mich, wenn ich es nicht selbst tue!« Dann wandte er sich plötzlich in entschlossenem Ton an mich: »Herr Doktor, würden Sie wohl so nett sein und mir etwas mehr Zucker verschaffen? Ich glaube, dies würde mir guttun.«
»Und den Fliegen ebenfalls«, entgegnete ich.
»Ja! Die Fliegen lieben ihn, und ich liebe die Fliegen. Also liebe ich Zucker.« – Und da gibt es tatsächlich Leute, die einem Wahnsinnigen jegliches logische Denken absprechen wollen! Ich versprach ihm eine doppelte Ration, und ich glaube, ich habe ihn damit zum glücklichsten Menschen der Welt gemacht. Könnte ich doch nur seinen Geist ergründen!
Mitternacht
Wieder eine Änderung an ihm. Ich war eben von einem Besuch bei Miss Westenra zurückgekehrt, die ich bedeutend wohler angetroffen hatte, und stand, in den Sonnenuntergang versunken, am Eingangstor, als ich ihn auf einmal brüllen hörte. Da seine Zelle auf dieser Seite des Hauses liegt, konnte ich ihn besser hören als am Morgen. Ich bedauerte sehr, mich von der wunderbaren, dunstigen Schönheit eines Sonnenunterganges über London losreißen
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