Dracula - Stoker, B: Dracula
fürchte ich, sehr bekümmert, denn er meinte, er müsse zunächst nachdenken. Als ich ihm von unserer Freundschaft erzählte und ihm sagte, wie sehr Du in der Angelegenheit auf meine Hilfe bautest, meinte er: »Teilen Sie ihm ruhig alles mit, was
Sie
von der Sache halten. Und wenn Sie es erraten können, so sagen Sie ihm meinetwegen auch, was ich denke. Nein, nein, ich scherze nicht. Hier geht es um Leben und Tod, vielleicht sogar um mehr.« Wir waren gerade wieder in die Stadt zurückgekehrt, wo er vor seiner Rückreise nach Amsterdam noch eine Tasse Tee trank. Ich fragte ihn, was er damit sagen wolle, denn er war äußerst ernst. Er wollte mir jedoch keine weitere Aufklärung zuteil werden lassen. Du darfst ihm das nicht verübeln, Art. Seine Zurückhaltung verrät vielmehr, dass sein Verstand gerade im höchsten Maße in Lucys Interesse arbeitet. Er wird, glaube mir, offen sprechen, wenn die Zeit gekommen ist. So sagte ich ihm denn, ich wolle Dir lediglich einen Bericht machen, als ob ich einen Artikel für den »Daily Telegraph« zu verfassen hätte. Er schien es nicht zu hören, sondern sagte, der Schmutz in London sei heute nicht mehr so schlimm wie damals, als er hier studierte. Ich werde seinen Bericht morgen erhalten, wenn er es einrichten kann. Auf jeden Fall bekomme ich einen Brief.
Nun also zur Visite: Lucy war viel heiterer als am ersten Tag, und sie sah ohne Zweifel besser aus. Sie hatte nicht mehr das |169| Geisterhafte, das Dich so entsetzte, und ihr Atem war normal. Dabei war sie äußerst freundlich gegenüber dem Professor (was sie ja eigentlich immer ist) und suchte ihm seine Arbeit möglichst zu erleichtern. Trotz allem aber merkte ich, dass das liebe Mädchen einen harten Kampf mit sich selbst ausfocht. Ich glaube, van Helsing bemerkte dies auch, denn ich sah einen raschen Blick unter seinen buschigen Brauen hervorschießen, den ich seit langem kenne. Er begann von allem Erdenklichen zu plaudern, außer von uns selbst und von Krankheiten, und er tat dies mit einer solchen Gewandtheit, dass Lucys bisher nur gespielte Fröhlichkeit sich in eine echte verwandelte. Dann, scheinbar ohne der Angelegenheit größere Bedeutung beizulegen, kam er auf unsere Visite zu sprechen und sagte in liebenswürdigem Ton: »Liebes junges Fräulein, es bereitet mir eine große Genugtuung zu wissen, dass Sie so sehr geliebt werden. Das ist sehr viel wert. Man hat mir erzählt, dass Sie sehr niedergeschlagen und blass wären – darauf kann ich nur erwidern: Blanker Unsinn! Sie und ich, wir beide werden allen beweisen, dass sie sich irren, nicht wahr? Wie könnte
der da
« – er deutete auf mich mit demselben Blick und derselben Geste, mit denen er einmal in seinem Kolleg und später noch einmal bei anderer Gelegenheit auf mich gedeutet hatte, an die er nie versäumte, mich zu erinnern – »wie sollte
der
etwas von jungen Ladys verstehen? Er hat es schließlich immer nur mit Irren zu tun, die er wieder glücklich machen und dann ihren Familien zurückgeben soll. Das ist natürlich eine große Aufgabe und auch eine gewisse Genugtuung, wann immer dies gelingt. Aber junge Ladys? Er hat weder Frau noch Tochter, und junge Leute sprechen zu ihresgleichen ganz anders als zu alten Leuten wie mir, die so viel Elend und auch dessen Ursachen kennengelernt haben. Deshalb, mein Kind, schicken wir ihn weg, damit er im Garten seine Zigarette rauchen kann, während wir beide in Ruhe miteinander plaudern.« Ich verstand seinen Wink und begab mich hinaus; schon bald darauf kam der Professor aber ans Fenster und rief mich wieder hinein. Er sah sehr besorgt aus und |170| sagte: »Ich habe eine eingehende Untersuchung vorgenommen, von einer Funktionsstörung konnte ich aber nichts bemerken. Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass sie in der letzten Zeit viel Blut verloren hat, aber ihre ganze Konstitution ist in keiner Weise anämisch. Ich habe sie gebeten, mir noch ihr Zimmermädchen zu schicken, an das ich ein oder zwei Fragen hätte, damit wir auch nichts übersehen. Allerdings kann ich mir schon denken, dass nicht viel dabei herauskommen wird. Und doch ist irgendeine Ursache vorhanden, für alles gibt es eine Ursache. Ich muss heimfahren und nachdenken. Sie werden mir jeden Tag telegrafieren, und wenn es nötig ist, komme ich sofort wieder. Diese Krankheit – denn wenn man sich nicht wohl befindet, so
ist
man krank – interessiert mich, und die nette junge Dame interessiert mich auch. Sie hat mich bezaubert, und so habe ich
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