Dracula - Stoker, B: Dracula
einen vorzüglichen Gesundheitszustand. Auch andere physiologische Beobachtungen geben mir die |166| Gewissheit, dass in dieser Richtung kein Grund zu Befürchtungen besteht. Da aber nichts auf Erden ohne Ursache geschieht, kam mir die Idee, dass die Ursache ihres Leidens vielleicht auf seelischem Gebiet zu suchen sein könnte. Sie beklagt sich über zeitweilige Atembeschwerden und über tiefe lethargische Schlafzustände mit quälenden Träumen, an die sie sich aber nach dem Erwachen nicht mehr erinnert. Auch erzählte sie mir, dass sie als Kind Schlafwandlerin gewesen, und dass diese Gewohnheit in Whitby wiedergekehrt sei. Einmal sei sie dort in der Nacht sogar bis zum East Cliff gegangen, wo Miss Murray sie dann gefunden habe. Zugleich versicherte sie mir aber, dass seit dem letzten Mal bereits eine längere Zeit vergangen sei. Ich habe gleichwohl große Bedenken, und so tat ich das Einzige, was mir in dieser Lage einfiel: Ich schrieb meinem alten Freund und Lehrer Professor van Helsing nach Amsterdam, der mehr von unklaren Krankheitsbildern versteht als sonst jemand auf der Welt. Ich habe ihn gebeten, hierher zu kommen. Da Du mir mitgeteilt hast, dass Du für alle Unkosten aufkommen wirst, habe ich ihm auch von Dir geschrieben und in welchem Verhältnis Du zu Miss Westenra stehst. Dies, mein lieber Freund, geschah lediglich in Erfüllung Deiner Wünsche, und ich bin glücklich und stolz, dass es mir vergönnt ist, etwas für Dich tun zu können. Ich weiß, dass van Helsing aus persönlichen Gründen gerne alles für mich tun wird, gleichwohl gilt es, sich auf ihn einzustellen, denn er ist ein sehr eigenwilliger Mann. Allerdings hat er dafür auch guten Grund, denn auf seinem Gebiet gibt es niemanden, der ihm das Wasser reichen könnte. Er ist ein Philosoph und Metaphysiker und einer der fortschrittlichsten Wissenschaftler unserer Epoche, zugleich aber absolut unvoreingenommen. Diese Eigenschaften sind bei ihm gepaart mit Nerven aus Stahl, mit größter Willensstärke, unbeugsamer Entschlossenheit, Selbstbeherrschung und Toleranz. Unter der Herrschaft des freundlichsten und aufrechtesten Herzens, das je geschlagen hat, vereint sich alles zu dem edlen Werk, dass er für die Menschheit in Theorie und Praxis leistet. Sein Horizont ist so weit wie seine |167| Menschenliebe. Ich sage Dir das alles, damit Du begreifst, warum ich ein solches Vertrauen zu ihm hege. Ich habe ihn gebeten, sofort zu kommen. Ich werde Miss Westenra morgen erneut treffen. Wir haben uns bei Harrod’s 2 verabredet, damit ihre Mutter nicht erschrickt, wenn ich meine Visite so rasch wiederhole.
Stets der Deine,
John Seward
Brief von Abraham van Helsing, Dr. med., Dr. phil.,
Dr. h. c. mult. etc., an Dr. Seward
2. September
Mein lieber Freund,
ich habe Ihren Brief erhalten und mache mich sofort auf den Weg zu Ihnen. Glücklicherweise kann ich jetzt gerade fort, ohne jemanden zu vernachlässigen, der sich mir anvertraut hat. Wäre es anders, so stünde es freilich übel um meine Patienten hier, denn zu meinem Freund komme ich, sobald er mich ruft, und helfe denen, die ihm teuer sind. Sagen Sie
Ihrem
Freund aber, dass Sie damals, als Sie mir so rasch das Gift aus der Wunde gezogen haben, die mir das Skalpell unseres unvorsichtigen Kameraden geschlagen hatte, mehr für mein jetziges Kommen getan haben, als das Geld Ihres Freundes je ausrichten könnte. Es ist mir eine zusätzliche Freude, Ihrem Freund beizustehen, der Grund meines Kommens sind jedoch ganz allein Sie. Reservieren Sie mir bitte Räume im »Great Eastern Hotel«, sodass ich gleich in der Nähe bin, und richten Sie es bitte so ein, dass wir die junge Dame morgen nicht allzu spät aufsuchen können, denn es ist möglich, dass ich noch in der Nacht wieder hierher zurückkehren muss. Sollte es sich jedoch als nötig erweisen, so werde ich in drei Tagen wiederkommen und dann bei Bedarf länger bleiben. Bis dann, mein Freund John,
van Helsing
|168| Brief von Dr. Seward an Hon. Arthur Holmwood
3. September
Mein lieber Art,
Van Helsing ist gekommen und auch schon wieder fort. Wir waren gemeinsam in Hillingham, wo es die umsichtige Lucy so einzurichten gewusst hatte, dass ihre Mutter auswärts zu Mittag aß – wir waren also ungestört. Van Helsing nahm eine sorgfältige Untersuchung der Patientin vor. Er wird mir seine Meinung mitteilen, und ich werde dann wiederum Dir berichten. Natürlich war ich bei der Untersuchung nicht die ganze Zeit über anwesend. Er ist,
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