Dracula - Stoker, B: Dracula
gefüllt, aber sie strömte einen eigentümlich scharfen Geruch aus. Ich schöpfte Verdacht und untersuchte das Gefäß – es roch nach Laudanum. Auf dem Beistelltisch bemerkte ich die Flasche, die der Doktor immer für Mutter verwendet – sie war leer! Was soll ich tun? Was soll ich nur tun? Ich bin jetzt wieder bei Mutter im Zimmer, denn ich kann sie nicht verlassen. Die Zimmermädchen unten schlafen, irgendjemand hat sie betäubt. Ich bin ganz allein, allein mit der Toten! Ich wage nicht hinauszugehen, denn ich höre durch das zerbrochene Fenster das tiefe Heulen des Wolfes …
Das Zimmer scheint jetzt wieder voll von diesen kleinen Funken |213| zu sein, die im Windzug des Fensters flattern und tanzen. Die Lichter im Haus brennen blau und düster. Was soll ich nur tun? Gott schütze mich heute Nacht vor dem Bösen! Ich werde dieses Papier an meiner Brust verbergen, wo sie es finden werden, wenn sie kommen, mich hinauszutragen. Meine liebe Mutter ist von mir gegangen; es ist nun wohl an der Zeit, dass auch ich gehe. Lebe wohl, geliebter Arthur, falls ich diese Nacht nicht überstehen sollte. Gott schütze Dich, Liebster, und er helfe mir!
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|214| ZWÖLFTES KAPITEL
Dr. Sewards Tagebuch
18. September
Ich fuhr sofort nach Hillingham und kam früh am Morgen an. Meinen Kutscher ließ ich am Gittertor halten, um allein die Allee zum Haus hinaufzugehen. Ich klopfte so leise wie möglich, um lediglich einen Dienstboten herbeizurufen und nicht etwa Lucy oder ihre Mutter zu wecken. Da mich niemand zu hören schien, klopfte und läutete ich nach einer Weile erneut, doch noch immer rührte sich nichts. Ich schimpfte auf die Faulheit der Dienstboten, die zu dieser Zeit noch im Bett zu liegen schienen – immerhin war es schon zehn Uhr. Nun wurde ich ungeduldig, aber alles Klopfen und Läuten blieb erfolglos. Hatte ich bis jetzt nur die Dienstboten im Verdacht gehabt, so packte mich nun eine entsetzliche Furcht: War diese Stille ein neues Glied in der Schicksalskette, die sich um uns zusammenzuziehen schien? Sollte es wirklich ein Haus des Todes sein, zu dem ich gekommen war –
zu spät
gekommen war? Ich wusste, dass ein um Minuten, ja um Sekunden verzögertes Eingreifen für Lucy lebensgefährlich sein konnte, wenn sie wieder einen jener entsetzlichen Rückfälle erlitten hatte. Ich lief also rund um das Gebäude, um irgendwo einen Eingang zu entdecken.
Nirgends bot sich eine Möglichkeit, ins Haus zu gelangen. Jedes Fenster, jede Tür war fest verschlossen, und ich kehrte enttäuscht zum Eingang zurück. Dort angekommen, hörte ich schnelle Hufschläge herannahen. Sie hielten am Tor an, und einige Sekunden später sah ich van Helsing die Allee heraufeilen. Als er mich erkannte, rief er keuchend:
»Dann ist das am Tor also Ihre Kutsche, und Sie sind auch gerade |215| erst angekommen? Wie geht es ihr, sind wir zu spät? Haben Sie denn mein Telegramm nicht erhalten?«
Ich antwortete ihm so rasch und zusammenhängend wie möglich, dass ich sein Telegramm erst heute in aller Frühe erhalten habe und, ohne zu zögern, sofort hierher geeilt sei, dass sich aber im Haus niemand rühre. Er atmete tief durch, nahm seinen Hut ab und sagte still:
»Dann fürchte ich, dass wir zu spät kommen. Gottes Wille geschehe!« Gleich darauf aber hatte er seine mitreißende Energie wieder zurückgewonnen, und er rief: »Kommen Sie! Wenn wir keinen Eingang ins Haus finden, nun, dann schaffen wir uns eben einen. Zeit bedeutet jetzt alles für uns!«
Wir begaben uns zur Rückseite des Hauses, wo sich ein Küchenfenster befand. Der Professor nahm eine kleine Knochensäge aus seinem Kasten, drückte sie mir in die Hand und deutete auf die Eisenstangen, mit denen das Fenster vergittert war. Ich machte mich augenblicklich an die Arbeit und hatte bald drei von ihnen durchtrennt. Dann schob van Helsing ein langes, dünnes Skalpell durch den Ritz des Fensterrahmens und legte den Riegel um, woraufhin wir das Fenster öffneten. Ich half dem Professor hinein und folgte ihm dann nach. In der Küche und in den angrenzenden Dienstbotenzimmern war niemand. Wir sahen in alle Räume, an denen wir vorbeikamen, und fanden im Speisezimmer, in das durch die geschlossenen Läden nur schwaches Licht eindrang, vier Dienstmädchen auf dem Boden liegend. Sie waren ganz offensichtlich am Leben, und ihr gleichmäßiger Atem sowie der scharfe Geruch von Laudanum, der die Luft erfüllte, ließen keine Zweifel über die Art ihres Zustandes zu. Van
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