Dracula - Stoker, B: Dracula
Helsing und ich sahen einander nur erstaunt an, und im Weitergehen sagte der Professor: »Denen werden wir später helfen.« Dann begaben wir uns zu Lucys Zimmer. Ein paar Augenblicke blieben wir vor der Tür stehen, um zu lauschen, aber es war kein Laut zu vernehmen. Mit blassen Gesichtern und zitternden Händen öffneten wir leise die Tür und traten ein.
|216| Wie soll ich den Anblick beschreiben, der sich uns hier bot? Auf dem Bett lagen zwei Frauen, Lucy und ihre Mutter. Die Letztere lag auf der Wandseite und war mit einem weißen Laken bedeckt, dessen eine Seite anscheinend vom Wind zurückgeschlagen worden war, der durch das zerbrochene Fenster eindrang. Wir sahen in ein bleiches, verzerrtes Gesicht, das einen Ausdruck größten Entsetzens zeigte. Neben ihr lag Lucy. Ihr Gesicht war kreideweiß und noch verzerrter. Die Blüten, die sie um den Hals getragen hatte, lagen auf der Brust ihrer Mutter. Lucys Kehle war bloß und zeigte die zwei kleinen, weißen Wunden, die wir schon früher gesehen hatten und die nun entsetzlich blutleer und zerfetzt waren. Ohne ein Wort zu sagen, beugte sich der Professor über das Bett, sodass er fast die Brust des armen Mädchens berührte. Dann drehte er rasch den Kopf wie einer, der lauscht, und rief, indem er sich aufrichtete:
»Es ist noch immer nicht zu spät! Schnell, schnell! Bringen Sie Brandy!«
Ich stürzte die Treppe hinunter, fand das Verlangte, roch daran und nahm einen Schluck, um zu sehen, ob der Brandy nicht auch wie die Sherrykaraffe mit Laudanum versetzt war. Die Mädchen atmeten noch immer ruhig und gleichmäßig, lagen aber schon nicht mehr so still, woraus ich schloss, dass die Wirkung des Narkotikums zu verfliegen begann. Ich verweilte jedoch nicht, sondern eilte zu van Helsing zurück. Dieser rieb mit dem Brandy wie zuvor schon einmal ihre Lippen, ihr Zahnfleisch sowie ihre Handflächen und Handgelenke ein. Dann sagte er:
»Das ist schon alles, was ich im Augenblick tun kann. Sie werden jetzt hinuntergehen und versuchen, die Mädchen wieder zu sich zu bringen. Fahren Sie ihnen mit einem nassen Tuch übers Gesicht, aber nicht zu sanft. Sie sollen dann gleich einheizen und ein warmes Bad herrichten – diese arme Seele hier ist fast ebenso kalt wie die, die neben ihr liegt. Sie muss vor allem erwärmt werden, ehe wir Weiteres unternehmen können.«
Ich ging wieder hinunter und weckte drei der Schlafenden |217| ohne Mühe. Die Vierte war noch ein ganz junges Mädchen, und das Gift hatte sie offenbar besonders stark angegriffen. Deshalb hob ich sie auf das Sofa und ließ sie noch schlafen. Die anderen waren anfangs völlig verstört, als sie aber zu sich gekommen waren, wurden sie beinahe hysterisch. Ich war jedoch äußerst streng mit ihnen und hieß sie schweigen. Dann sagte ich ihnen, dass
ein
verlorenes Leben schlimm genug sei und dass sie, wenn sie sich nicht beeilten, auch noch Miss Lucy töten würden. So machten sie sich, halb bekleidet, wie sie waren, unter Klagen an die Arbeit. Zum Glück waren die Feuer im Herd und im Boiler noch nicht ausgegangen, und er herrschte kein Mangel an heißem Wasser. Wir richteten ein Bad her und legten Lucy hinein, wie sie war. Während wir eifrig ihre Gliedmaßen rieben, dröhnte unten am Haupteingang ein lautes Klopfen. Eines der Mädchen warf sich eilig einige Kleidungsstücke über, lief hinunter und öffnete. Dann kehrte sie zurück und teilte uns flüsternd mit, dass ein Herr unten sei, der eine Botschaft von Mr. Holmwood zu überbringen habe. Ich bat sie, ihm mitzuteilen, dass er sich etwas gedulden möge, da wir uns gegenwärtig um niemanden kümmern könnten. Sie richtete es aus, und da wir ganz vertieft in unsere Arbeit waren, vergaßen wir ihn vollkommen.
Noch nie zuvor hatte ich den Professor mit solch furchtbarem Ernst arbeiten sehen. Ich wusste genauso gut wie er, dass es ein harter Kampf auf Leben und Tod war, den wir auszufechten hatten, und sagte ihm dies, während er sich einen Augenblick ausruhte. Er antwortete mir mit ernstem Gesicht in einer Weise, die ich nicht verstand:
»Wenn es damit auch wirklich vorbei wäre, dann ließe ich die Sache, so wie sie jetzt ist, und ließe Lucy in Frieden hinüberschlummern, denn ich sehe für sie kein Licht mehr an ihrem Horizont.« Dann fuhr er in seiner Arbeit fort, mit erneutem, fast verzweifeltem Eifer.
Bald bemerkten wir, dass die Wärme einen günstigen Einfluss auszuüben begann. Lucys Herz klopfte wieder etwas deutlicher, |218| wie wir mit dem
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