Dracula - Stoker, B: Dracula
reichte er mir die Papiere mit den Worten: »Dies fiel von Lucys Brust, als wir sie ins Bad trugen.«
Nachdem ich alles gelesen hatte, blickte ich den Professor an und fragte ihn: »Um Himmels willen, was soll das heißen? War sie oder ist sie wahnsinnig, oder was für eine entsetzliche Gefahr schwebt da über uns …« Ich war so erregt, dass ich nicht weitersprechen konnte. Van Helsing streckte seine Hand aus, nahm die Blätter wieder an sich und sagte:
»Lassen Sie sich darüber jetzt mal keine grauen Haare wachsen. Vergessen Sie es einfach, wenigstens fürs Erste. Sie werden alles noch rechtzeitig erfahren und verstehen, aber erst später. Nun, was wollten
Sie
mir sagen?« Das brachte mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, und ich war wieder ich selbst.
»Ich wollte mit Ihnen über den Totenschein sprechen. Wenn wir da nicht sorgfältig und mit Bedacht verfahren, könnte es unter Umständen zu einer Untersuchung kommen, die vielleicht sogar dieses Papier zutage fördert. Ich hoffe, dass es nicht so weit kommen wird, denn wenn das eintreten sollte, würde es sicher genügen, die arme Lucy doch noch zu töten. Wir beide wissen, und auch der andere Arzt, der sie behandelt hat, weiß, dass Mrs. Westenra herzkrank war, und wir können alle bestätigen, dass sie daran gestorben ist. Lassen Sie uns den Totenschein am besten sofort ausfüllen, und ich werde ihn eigenhändig zum Amt tragen und den Bestatter bestellen.«
|221| »Recht so, Freund John! Es ist gut, dass Sie daran denken! Wenn Miss Lucy auch Feinde hat, die ihr hart zusetzen, so ist sie doch auch mit prächtigen Freunden gesegnet, die alle in sie verliebt sind. Gleich drei öffnen ihre Adern für sie, von dem alten Mann ganz abgesehen. Ja, mein Freund, ich bin nicht blind, ich habe Sie durchschaut! Ich mag sie alle umso mehr dafür. Und nun aber raus mit Ihnen!«
Unten im Hausflur traf ich Quincey Morris, der gerade ein Telegramm an Arthur verfasste, um diesem mitzuteilen, dass Mrs. Westenra verstorben und Lucy in einem sehr kritischen Zustand gewesen sei, es Letzterer aber mittlerweile wieder besser gehe, da van Helsing und ich sie behandelten. Ich sagte ihm, was ich vorhatte, und er ermahnte mich zur Eile, flüsterte mir aber im Fortgehen noch zu:
»Wenn du zurückkommst, Jack, habe ich ein paar Worte mit dir zu wechseln, aber ganz unter uns!« Ich nickte zustimmend und entfernte mich. Auf dem Amt wurden mir keine Schwierigkeiten bereitet, und mit dem Bestatter vereinbarte ich einen Termin am Abend, damit er das Maß für den Sarg nehmen und die notwenigen Arrangements treffen kann.
Als ich zurückkam, wartete Quincey schon auf mich. Ich versprach ihm, sofort zu seiner Verfügung zu stehen, sobald ich nach Lucy gesehen hätte, und begab mich in ihr Zimmer. Sie schlief noch immer, und der Professor war anscheinend nicht von ihrer Seite gewichen. Er legte einen Zeigefinger an die Lippen, wollte sie also nicht aufwecken, bis sie von selbst erwachte. So ging ich also zu Quincey hinunter und nahm ihn mit ins Frühstückszimmer, wo die Vorhänge nicht zugezogen waren und es daher ein wenig freundlicher oder weniger trostlos aussah als in den anderen Räumen. Als wir allein waren, sagte er:
»Jack Seward, ich mag es nicht, mich in irgendetwas einzumischen, was mich nichts angeht, aber dies ist wohl ein außergewöhnlicher Fall. Du weißt, auch ich hatte das Mädchen gern und wollte sie heiraten, und obgleich das alles vergangen und vorbei |222| ist, kann ich nicht umhin, in Sorge um sie zu sein. Was ist denn eigentlich mit ihr los? Der Holländer – ein prächtiger alter Kerl, das sieht man gleich – sagte, als ihr beide ins Zimmer kamt, dass noch eine
weitere
Bluttransfusion nötig sein würde, und dass ihr beide erschöpft wäret. Nun weiß ich wohl, dass ihr Ärzte gerne im Geheimen handelt und dass kein Mensch erwarten darf, etwas von dem zu erfahren, was ihr unter euch beratet. Aber das hier ist schließlich kein alltäglicher Fall, und immerhin bin ich ja nun auch irgendwie beteiligt, nicht wahr?«
»Da hast du recht«, sagte ich, und er fuhr fort:
»Ich kann also davon ausgehen, dass du zuvor schon einmal dasselbe getan hast, was ich heute tat, und van Helsing ebenso, stimmt’s?«
»Ja, das ist so.«
»Und Art ist natürlich auch mit von der Partie. Als ich ihn nämlich vor vier Tagen sah, machte er einen ganz seltsamen Eindruck. Ich habe bislang nur einmal etwas so schnell dahinsiechen sehen, und zwar in den Pampas. Da hatte ich
Weitere Kostenlose Bücher