Dracula - Stoker, B: Dracula
mir nur alles, denn es gibt nichts, was für Dich von |227| Interesse ist und mir gleichgültig wäre. Jonathan beauftragte mich, Dir seine »respektvollsten Empfehlungen« zu übermitteln, aber ich glaube, dass das von dem jüngsten Teilhaber der angesehenen Anwälte Hawkins & Harker schlecht formuliert ist. Da Du mich liebst und er mich auch, und da ich wiederum Euch beide liebe, kann ich Dir mit bestem Gewissen auch von ihm »alles Liebe und Gute« wünschen. Auf Wiedersehen, meine liebste Lucy, Gott segne Dich!
Deine
Mina Harker
Bericht von Patrick Hennessey, Dr. med.,
Mitglied des Royal College of Surgeons,
Lizenziat King’s College und Queen’s College of
Medicine, Irland, etc., an John Seward, Dr. med.
20. September
Sehr geehrter Herr Dr. Seward,
Ihrem Wunsch entsprechend, erstatte ich Ihnen Bericht über den Stand der mir von Ihnen übertragenen Aufgaben … Was den Patienten Renfield anbetrifft, gibt es viel zu sagen. Er ist ein weiteres Mal ausgebrochen. Die Sache hätte ein sehr unangenehmes Ende nehmen können, sie ist aber noch glücklich abgelaufen und hatte weiter keine Folgen. Heute Nachmittag fuhr nämlich ein Frachtwagen an dem verlassenen Haus vor, das uns benachbart ist – es ist jenes Haus, zu dem der Patient, wie Sie sich erinnern werden, zweimal geflüchtet ist. Die Leute hielten an unserem Gittertor, um den Portier nach dem Weg zu fragen, da sie fremd waren. Ich selbst sah gerade zum Fenster des Arbeitszimmers hinaus und rauchte meine Zigarre, als ich einen von ihnen direkt auf unser Gebäude zukommen sah. Als er unten an Renfields Fenster vorbeiging, begann der Patient von innen heraus auf ihn zu schimpfen und ihm alle nur erdenklichen Beleidigungen zuzuschreien. |228| Der Mann, der sehr bescheiden zu sein schien, begnügte sich damit, ihn einen frechen Bettler zu nennen, worauf unser Patient den Fremden beschuldigte, er wolle ihn, Renfield, berauben und ermorden, aber er würde sich wehren, selbst wenn er dafür an den Galgen käme. Ich öffnete das Fenster und machte dem Mann ein Zeichen, keine Notiz davon zu nehmen. Er gab sich zufrieden, sah sich im Garten um erkannte plötzlich, wo er sich befand. Dann sagte er: »Gott segne Sie, Herr, aber ich werde doch nichts darauf geben, was mir in einem Irrenhaus zugeschrien wird. Sie und der Direktor sind hingegen zu bedauern, dass Sie mit so einem wilden Tier unter einem Dach leben müssen.« Dann erkundigte er sich sehr höflich nach dem Weg, ich erklärte ihm, wo sich die Einfahrt zu dem leeren Haus befand, und er ging wieder, verfolgt von den üblen Drohungen, Flüchen und Schmähungen unseres Patienten. Ich begab mich darauf hinunter, um die Ursache von Renfields Ärger zu erfahren, da er sonst doch wohlerzogen ist und wir außer seinen Tobsuchtsanfällen noch nie etwas Derartiges mit ihm erlebt haben. Ich fand ihn zu meinem Erstaunen vollständig beruhigt vor, er war sogar auf seine übliche Art höflich zu mir. Als ich versuchte, das Gespräch auf den Zwischenfall zu lenken, fragte er mich freundlich, was ich denn meine; er gab sich ganz den Anschein, von der Sache absolut nichts mehr zu wissen. Dies war aber leider nur ein neues Beispiel seiner Verschlagenheit, denn nach kaum einer halben Stunde hörte ich schon wieder von ihm. Diesmal war er aus dem Fenster seines Zimmers gestiegen und rannte die Allee hinunter. Ich beauftragte die Pfleger, mir zu folgen, und wir eilten ihm nach. Mein Verdacht, dass er einen bestimmten Plan verfolge, bewahrheitete sich: Gerade sah ich den Wagen, der zuvor an unserem Haus vorbeigefahren war, den Weg wieder zurückkommen. Er hatte nun einige Holzkisten aufgeladen, und die Leute wischten sich die Stirn und sahen ganz rot aus, wie nach einer großen Anstrengung. Ehe ich den Patienten noch erreichen konnte, sprang dieser schon auf sie zu, riss einen von ihnen vom Wagen |229| und stieß ihn mit dem Kopf auf die Erde – hätte ich ihn nicht noch rechtzeitig gepackt, ich glaube, er hätte den Mann getötet. Der zweite Fuhrmann sprang herunter und hieb Renfield den Stiel seiner Peitsche über den Kopf – es war ein furchtbarer Schlag, aber Renfield schien ganz und gar nicht beeindruckt davon, sondern warf sich auch noch auf den neuen Gegner und rang nun mit uns dreien, wobei er uns herumwarf, als wären wir junge Kätzchen. Sie wissen, ich bin kein Leichtgewicht, und die beiden anderen waren grobschlächtige Kerle. Anfangs kämpfte er stillschweigend. Als wir seiner aber Herr wurden und die
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