Dracyr – Das Herz der Schatten
hinunter und fühlte sich so leicht wie schon seit Langem nicht mehr. Ihr Herz sang und Gormydas schickte ihr eine Welle von Gelächter und das Gefühl warmer, neidloser Freude und Zustimmung. Er wusste, dass sie wieder zu ihm zurückkehren würde.
Unter einer Weide an einem der vielen kleinen Flussarme westlich des Ortes legte sie eine Pause ein. Die Sonne war inzwischen aufgegangen, und der Morgennebel, der wie Feenschleier über dem Wasser lag, begann sich aufzulösen. Der Horizont war dunstig, und die Frische der Nacht wich dem, was ein heiÃer und schwüler Tag zu werden versprach.
Kay verspeiste ihre Wegzehrung bis auf den letzten Krümel und schöpfte ein paar Händevoll Wasser aus dem Fluss. Es schmeckte rein und ein bisschen nach frischem Gras.
Sie wusch sich das Gesicht und blickte zum Himmel auf. Es war Zeit umzukehren. Die heutige Ãbung sollte am späten Vormittag stattfinden und würde sicherlich nicht weniger anstrengend ausfallen als die gestrige.
Kay lehnte sich gegen den Baumstamm und lieà ihren Blick auf dem Wasser treiben. Sie fasste nach dem Dracerbewusstsein in ihrem Inneren. Gormydas. Aber nicht nur erâ seit dem Vorfall während des Manövers waren ihr alle Dracyr der Neun beinahe ebenso nah wie ihr eigener Dracer. Sie berührte jeden einzelnen von ihnen mit sanften Geistfingern, sprach zu ihnen ohne Worte, lieà ihre Gedanken und Empfindungen wie ihre eigenen an sich vorüberziehen. Vorfreude auf den Flug, sanfte Trauer, ungeduldige Erwartung, Aufregung wegen des gestrigen Vorfalls.
Kay beruhigte und ermunterte, tröstete und heiterte auf, gab und empfing Wärme und Zuneigung und festigte bei alldem, ohne es zu beabsichtigen, das Band, das sich zwischen ihr und den Dracyr gebildet hatte. Sie tastete sich weiter, tiefer, obwohl sie fürchtete, erneut auf Damian zu treffen, berührte die Mutter der Nestlinge, die Dracerjungen selbst, spürte die Gegenwart der Dracyr im Zuchtpferch, die so diffus und namenlos waren, deren Gedanken träge durch ihr Bewusstsein schwappten, schlafende, sanfte Existenzen, sie fühlte den Empfindungen nach, schmeckte sie wie dunklen Honig auf der Zunge, berührte eine scharfe, kalte Regung, die sie zurückzucken lieÃâ¦
Ehe sie sich zurückziehen konnte, griff das fremde Bewusstsein nach ihr und packte sie mit unbarmherzigem Griff. Sie wollte schreien, aber ihr Körper reagierte nicht auf die Befehle ihres Ichs. Sie registrierte entfernt, dass sie zusammengesunken neben der Weide kauerte. Wer sie sah, musste denken, dass sie schlief oder ohnmächtig geworden war.
Das Bewusstsein, kalt und dunkel wie eine Winternacht, hielt sie unnachgiebig gefangen. Sie wand sich wie ein Insekt unter einer Lupe. Das fremde Wesen betrachtete sie, examinierte sie, stocherte rücksichtslos in ihrem Inneren herum, drehte sie, wendete sie, zerlegte sie und setzte sie nachlässig wieder zusammen. Dunkel und kalt. Nein, dunkel und heià wie das Innere eines Sterns. Kay glühte und fror gleichzeitig. Schweià rann in Bächen über ihr Gesicht und gefror zu eisigen Tränen. Sie zitterte und wand sich vor Qual. Ihre stummen Schreie trafen auf das fremde Bewusstsein, und sie spürte seine Erheiterung, die unverhohlene Freude, mit der es ihre Pein kostete wie einen schweren, süffigen Rotwein.
Kay glaubte, die Qual keinen Augenblick länger ertragen zu können. Sie wusste, dass sie sterben würde, jetzt.
Das Fremde lieà sie los. Sie schnappte nach Luft, tauchte hinauf an die Oberfläche, kämpfte sich zurück ans Licht des Tages.
Sie schlug die Augen auf und blickte auf das sonnenglitzernde Wasser. Einige Atemzüge lang wusste sie nicht, wer oder wo sie war. Was sie hier tat. Was geschehen war.
Sie setzte sich auf und schüttelte den Kopf, als hätte ihr jemand einen festen Schlag versetzt. Mit weichen Gliedern stemmte sie sich auf die FüÃe und taumelte zum Ufer, wo sie niederkniete und sich Wasser ins Gesicht und über den Kopf laufen lieÃ. Die Kälte vertrieb die letzten Nebel und weckte sie vollkommen aus ihrer Benommenheit. Kay japste und schüttelte das Wasser ab, wischte ihr Gesicht mit der Kappe trocken und zog sie wieder über ihr nasses Haar.
Was war das?, fragte sie Gormydas. Was hat mich da angegriffen?
Der Dracer schwieg. Er schien ebenso eingeschüchtert zu sein wie sie. Nach einer Weile sandte er ein Bild, einen wortlosen Gedanken:
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