Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
die fast menschlich aussahen – fünf Finger mit langen, einwärts gebogenen Krallen. Der Körper war wie eine Spindel geformt. Flügel und Körper glänzten weiß. Vier Beine lagen dicht am Körper an. Ein biegsamer und langer Schwanz mit einer Spitze, die wie das Blatt eines Speeres aussah, ruderte bei jedem Flügelschlag durch die Luft. Ein langer Hals reckte sich nach vorn. Auf ihm drehte sich ein Schädel, an dem etwas wie ein furchtbarer Vogelschnabel saß. Der Drache glitt tiefer und nahm ganz augenscheinlich den Geier zum Ziel.
Obad stöhnte auf, als er erkannte, was hier geschehen würde.
Dann sah auch der schwarze Geier seinen Gegner.
»Cnossos! Besiege den weißen Drachen! Rette die Stadt und bringe uns Regen. Du hast die Sonne wieder aus gespien! Nimm nun das Opfer an!« schrie Obad.
Die Köpfe der Menge duckten sich angstvoll, als sie das Rauschen von zwei Flügelpaaren dicht über sich hörten. Und über dem Tempel des erwachten Gottes trafen die beiden Giganten zusammen. Der Drache rammte den Geier in vollem Flug. Ein klatschendes und knirschendes Geräusch hallte herunter. Der Geier krächzte heiser auf.
Dragon preßte das Amulett gegen die Brust.
Der Drache schlug mit einer Schwinge, spreizte die Krallen und schlug zu, während er sich in der Luft halb herumdrehte. Er traf den Flügel des Vogels und löste einen Regen von Federn aus. Sie fielen erst langsam, plötzlich wurden sie schneller, so als vergrößere sich ihr Gewicht. Als sie den Boden berührten, verwandelten sie sich in kleine, dünne Vipern und schlängelten sich davon.
Damos sah es mit Entsetzen. Wohl hatte er von solchen Dingen gehört, wohl war ihm der Name Cnossos nicht unbekannt, aber jetzt geschahen Dinge, die er zeit seines Lebens für Aberglauben und Legenden gehalten hatte. Jetzt kämpften die Gestalten aus Alpträumen am Himmel.
Der Geier flatterte krächzend und schlug seine Krallen haltsuchend in einen Drachenflügel. Der Drache flatterte auf der Stelle. Sein gewaltiger Schwanz pfiff durch die Luft und traf den Geier in der Mitte des Körpers. Wieder stoben die Federn. Der Kopf des weißen Giganten fuhr herum. Aus dem Rachen kam eine weiße, ätzende Wolke, die den Geier einhüllte. Die Schwinge bewegte sich auf und nieder, um den Geier abzuschütteln. Die Federn fielen steil herab und verwandelten sich wieder, kaum daß sie den Boden berührt hatten, in lebende Tiere, die eilig davonkrochen.
Die Menschen stoben auseinander, wenn die Federn zwischen sie fielen.
Der Geier löste seine Krallen aus dem Flügel des Drachen. Er wurde weit durch die Luft geschleudert. Er raste vor Wut. In steilem Flug stürzte er sich erneut auf seinen Gegner. Wieder stießen die beiden gewaltigen Geschöpfe zusammen.
Der Geier gelangte an den Hals des Drachen und hieb seinen Schnabel hinein. Blut floß über die weiße Haut und sprühte herab. Wieder peitschte der Schwanz des Drachen nach vorn. Der dumpfe Schlag war kaum verhallt, als der Geier seinen Schnabel löste. Diesmal schien er schwer getroffen. Er fiel. Der Drache faltete seine Schwingen zusammen und holte den Vogel ein. Er versetzte ihm einen gewaltigen Schlag, und der Geier fiel nun wie ein Stein rasend schnell dem Erdboden entgegen. An der Stelle, wo er aufschlagen würde, rannten die Menschen auseinander und trampelten sich gegenseitig nieder, als sie zu fliehen versuchten.
Doch dicht über der Menschenmenge fing sich der Geier wieder.
Zuerst segelte er mit ausgebreiteten Schwingen einige Handbreit über den Köpfen dahin, dann suchte er mit kräftigen Flügelschlägen Höhe zu gewinnen. Er schraubte sich in zwei engen Kreisen empor und griff den Drachen abermals an. Sein vorgestreckter Schnabel zielte auf den Kopf.
Der Drache blies ihm seinen feurigen Atem entgegen und spreizte seine vier Füße. Man sah riesige, dreieckige Krallen. Dann öffnete er den Rachen und schrie.
Es war ein Ton, der das Blut in den Adern gefrieren ließ. Viele Menschen warfen sich zu Boden. Andere begannen auf Urgor zuzulaufen.
Der Drache verfolgte den Geier und faßte ihn schließlich mit einer seiner Klauen. Dicke, schwere Blutstropfen regneten aus dem Körper des Geiers zu Boden. Der nach vorn schnellende Schwanz köpfte ihn fast. Auf dem schwarzen Gefieder glänzte dunkel Blut. Die Tropfen, die aus dem Körper des Geiers fielen, verwandelten sich in der Luft, und eine Weile war die Luft erfüllt von surrenden, schwirrenden, heulenden Geschöpfen.
Eine panische Massenflucht setzte ein.
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