Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
wütend die Faust über der Menge, die er verloren hatte. Er wußte, Worte würden nun nichts mehr vermögen, und Ada zu töten mochte sie in diesem Augenblick nur noch mehr von ihm abwenden. Nun war nur noch eines zu tun.
»Cnossos wird helfen«, flüsterte er grimmig.
Er zog sein Amulett hervor und drehte sich mit erhobenen Armen einmal im Kreis. Er zeigte dem Volk die blutrote, viereckige Platte mit dem goldenen Kopf des Götzen in der Mitte. Mit neu aufflammender Furcht blickten die Menschen von der leuchtenden Sonnenscheibe zu diesem Amulett. Ein Aufstöhnen ging durch die dichtgedrängten Reihen. Alles wartete auf ein Zeichen, auf ein Wunder.
Obad hielt das Amulett mit beiden Händen vor sein Gesicht. Seine Daumen bewegten sich. Dann hörten einige der Umstehenden, wie er in der Alten Sprache redete. Das Amulett schien ihn zu verstehen.
»Jetzt«, flüsterte Dragon eindringlich in der Alten Sprache.
Amees Blick war angespannt auf Ada gerichtet, die langsam auf sie zukroch, unbeachtet von Obad. Aber sie war noch immer zu nah bei ihm, ein Schritt, und er konnte ihr den Schädel zerschmettern. Partho vermochte sich nur mühsam zurückzuhalten. Eine plötzliche Kälte ließ die Menschen frösteln und füllte ihre Herzen mit Eis.
»Ich habe den Gott der vielen Namen gerufen!« schnitt Obads Stimme durch die eisige Stille. »Ich rief ihn unter dem Namen Cnossos in der Gestalt des schwarzen Geiers. Er wird wie ein Sturmwind aus dem Himmel kommen, mitten aus der Finsternis, die er geschaffen hat! Er wird den schlafenden Gott, der besser nicht aufgewacht wäre, in den ewigen Schlaf zurückschicken. Er wird uns helfen, das Opfer darzubringen. Dann wird er die Sonne wieder ausspeien, und wir werden fortan unter seinem Schutz in ihrem Licht leben können!«
Er machte eine Pause und fuhr mit sich fast überschlagender Stimme fort: »Komm, o Cnossos! Wir sind bereit für dich!«
Er steckte das Amulett zurück und ließ seinen Blick über die Menschenmenge gleiten. Amee bereitete sich zum Sprung vor, und oben am Tempeleingang spannte Partho den Bogen.
»Seht nach Westen!« schrie Obad.
Er deutete mit dem ausgestreckten Arm. Dann bückte er sich, nahm das Schwert in die Hand und starrte in die Dunkelheit des westlichen Himmels. Langsam wurde die Sonne wieder sichtbar. Es war, als ob eine riesige Fackel nach Westen deutete. Der Gesang der Dunklen Wächter wurde dünn wie ein Spinnenfaden – schließlich riß er. Auch die Trommeln schwiegen. Obad sah einen winzigen Punkt, abermals dunkler als der Himmel, von Sonnenuntergang her auf sie zukommen.
Obads Stimme überschlug sich. »Dort naht Cnossos auf den Flügeln des Sturmes!«
Niemand hatte ein Auge für Partho und Damos, die den Hügel herabstürmten und Ada aufhoben, während Amee den Bogen voll auszog und auf Obads Kopf zielte. Damos nahm das Mädchen auf die Arme und rannte mit ihm zurück in den Tempel.
Von Westen her näherte sich ein großer Vogel. Seine Flügel peitschten die Luft. Es waren lange schwarze Schwingen mit weißen Schwungfedern. Der Vogel strich dicht über den Baumwipfeln dahin und glitt auf den Punkt am Fuß des Hügels zu, an dem sich Dragon und Obad gegenüberstanden. Der lange weiße Hals und der Geierschnabel waren deutlich zu erkennen. Dreimal schrie das Tier langgezogen und mißtönend. Es klang wie ein Schrei aus einer anderen Welt.
»Er wird den Frevler töten!« rief Obad.
Dragon hob den Arm. »Volk von Urgor! Blickt nach Osten! Dort kommt das Verderben für Obad und alle, die mit ihm sind!«
Die Helligkeit nahm zu. Tausende von Menschen drehten sich um und blickten in die Richtung, in der Urgor lag. Dann ging ein einziger, langer Schrei des Entsetzens durch die Menge. Obad begann zu zittern.
Seine Finger umklammerten das Schwert. Zahllose Stimmen brandeten auf. Hunderte flohen in der zunehmenden Helligkeit quer über die Felder. Die finstere Nacht mitten am Tag kam zu einem Ende, und die schlimmsten Träume wurden Wirklichkeit. Von Osten her kam ein Drache gewaltiger Größe.
Damos trat aus dem Haus und sah ebenfalls zuerst den Geier, dann den Drachen. Amees Augen waren weit aufgerissen; sie konnte nicht glauben, was sie sah. Ohne daß es ihr bewußt war, klammerte sie sich an Dragons Arm.
Der Drache war groß wie ein Haus. Seine Schwingen schlugen kraftvoll, aber langsam. Sie streckten sich mehrere Manneslängen weit in die Luft. Sie sahen aus wie die Schwingen von Vampiren. Am Rand eines jeden Flügels befanden sich Klauen,
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