Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
über den flüchtenden Menschen. Nicht ein einziger Stadtbewohner, nicht einer der Palastwache und selbst kein Dunkler Wächter befanden sich mehr hier am Fuß des Hügels – alle waren Hals über Kopf geflohen.
Agrion kam Partho entgegen. Sie lächelte ihn an, als er den Helm abschnallte und das Schwert in die Scheide zurückschob.
»Das Wunder, das wir alle erhofften, ist doch noch geschehen. Ada ist wieder bei uns. Was tut unser neuer Freund?«
Sie deutete auf Dragon, der allein vor dem Haus stand und dem Drachen nachblickte. Das Tier flog nicht sehr hoch, aber ziemlich schnell. Von hier aus konnten sie gerade noch die winzige Gestalt des Oberpriesters sehen, wenn sich die Drachenschwingen hoben.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht wirft er ihn in den Raxos!« sagte Partho.
Sie blieben stehen und sahen dem Drachen nach. Er hatte jetzt die Stadt erreicht, glitt über die Mauer und den Tempelbezirk, flog über die letzten Menschen hinweg, die sich aufgemacht hatten, das Schauspiel der Opferung zu erleben, und die als erste geflohen waren.
Wie eine Wolke kreiste der Drache über Urgor und hing schließlich direkt über dem Tempel des Cnossos.
Sie hörten Dragon deutlich sagen: »Jetzt!«
Verwundert blickten sich Agrion und Partho an. Der Drache öffnete seine Klauen. Die winzige Gestalt Obads fiel fast senkrecht aus dem Himmel, hundert Mannslängen tief. Auch dies sahen Tausende von Menschen in der Stadt und auch jene, die noch auf die Stadttore zurannten und bereits begannen, die ersten Steine auf die Dunklen Wächter zu werfen. Obad fiel schreiend, drehte sich mehrmals und prallte auf die weißen Steine vor dem Tempel des Gottes mit den vielen Namen. Dann beschrieb der Drache einen letzten Kreis am Himmel und entschwand nach Osten, in die Richtung der fernen Himmelsberge.
Dragons Amulett erlosch. Jetzt war es nichts anderes mehr als ein rundes Stück goldenen Metalls mit einem Rubin in der Mitte.
Partho sagte leise: »Es ist wirklich ein Wunder.«
Nabib kam aus dem Haus und sagte zu Partho und Agrion: »Verdammt will ich sein, wenn ich glaube, was ich in meinem Leben gelernt habe. Ich werde künftighin alles glauben, selbst wenn man mir von Pferden berichtet, die Hörner auf der Stirn tragen, oder von einäugigen Riesen. Partho! Was sagst du dazu?«
Der Hauptmann löste die Schnallen der Rüstung. Agrion half ihm dabei. »Ich kann mich deiner Meinung nicht verschließen, Freund!« erwiderte Partho. »Ich glaube, ich muß erst einmal darüber schlafen.«
Nabib meinte grinsend: »Die Welt, in der wir leben, Freund Partho, kennt nicht nur Schurken und Edle, sondern auch mannigfache Wunder.«
Dragon, Nabib, Agrion und Partho standen auf der Terrasse vor dem Eingang des Hauses, während sich innen Amee und Damos um Ada kümmerten. Dragon sah jeden von ihnen lange an und sagte:
»Der Drache verstand mich. Er verstand meine Gedanken. Ihr müßt wissen, ich hatte einen Traum, in dem ein Drache mein Freund war. Ich habe versucht, ihn zu rufen … und er hat geantwortet …«
»Vielleicht«, sagte Nabib, »war es gar kein Traum, Dragon, sondern eine Erinnerung?«
Dragons Augen leuchteten auf, doch dann schüttelte er ernüchtert den Kopf. »Nein, dies war nicht der Drache aus meinem Traum. Der Drache aus meinem Traum kam von den Sternen.«
Amee kam aus dem Haus. Sie nahm Dragon an der Hand und zog ihn mit sich. Dragon ließ sich willig führen.
Partho sagte dumpf zu Nabib: »Was siehst du dort, Freund Nabib?«
Nabib legte in brüderlicher Eintracht seinen Arm um die Schultern des Hauptmanns und sagte in ungewohntem Ernst: »Was ich sehe, Hauptmann Partho, Mann von vierundzwanzig Sommern? Ich sehe eine junge Frau, die mit vielen wirklichen Dingen und einem Traum aufgewachsen ist. Und nun ist dieser Traum auf dem Weg, wirklich zu werden …«
Er wurde unterbrochen. Übergangslos erscholl ein schmetterndes Krachen. Er schrak zusammen, hob den Kopf und schaute nach oben. Mehr als die Hälfte des Firmaments war tiefschwarz. Dann, fast unmittelbar nach einem Blitzschlag, rollte ein neuerlicher Donner. Es war ein Laut, den sie alle schon seit Monden nicht mehr gehört hatten.
»Regen!« flüsterte Agrion. »Endlich Regen!«
Nabib deutete auf einen fernen Baum, den ein Blitz entzündet hatte.
»Dort, seht den Baum. Ein hochmütiger Baum, alt und knorrig. Er wagte es, seine Spitze hoch in den Himmel zu schieben wie jener Obad. Und was ist der Lohn?«
Partho beobachtete finster, wie Dragon seinen Arm um die
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