Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
der vielen Namen? Was siehst du in deiner lichtlosen Welt?«
Die Frau lächelte verhalten. »Du tust gut daran, den Pfad des Wissens zu gehen, Dragon. Nur so wirst du den Gefahren gewachsen sein. Was ich sehe? Ich sehe … ich sehe eine gewaltige Gefahr, die über dieser ganzen Welt schwebt. In vielerlei Masken wird diese Gefahr immer wieder deinen Weg kreuzen und den Weg derer, die mit dir sind. Ich weiß, das ist nicht viel, was ich dir sagen kann, und doch bist du der erste Mann, über dessen Zukunft ich mehr weiß als über seine Vergangenheit.«
Dragon nickte verwirrt.
»Gefahr, Gefahr …«, brummte Partho. »Welche Gefahr? Das ganze Leben bedeutet Gefahr. Einmal nur möchte ich von diesen Weissagern ein klares Wort hören.«
»Höre auf die richtigen Ratgeber«, fuhr Maratha fort. »Auf dieses Mädchen neben dir, auf den Hauptmann mit den zweifelnden Gedanken. Höre auf das, was die Weisen sagen. Und wenn du hier vorbeikommst, besuche mich. Vielleicht sehe ich etwas, das dir nützt. Wenn du zwei Tage wartest, kannst du den Fluß überqueren. Das Wasser wird dann gefallen sein.«
Sie kauerte sich nieder und legte ihren Arm um den Hals des wilden Hundes, der sich an sie drängte.
»Und die Hirten werden euch Käse und Fladenbrot, Fleisch und Milch verkaufen. Ich schicke den Hund zu ihnen.«
Dragon sah, daß sie in ihr kleines Haus zurückkehren wollte. Dort würde sie in ihrer inneren Welt suchen und Dinge sehen, die den Menschen verborgen blieben, deren Augen sehend waren.
»Eines Tages, Maratha«, sagte Dragon, »werde ich dir danken.«
Sie lächelte ihn an. Iwa wußte: Dies war das schmerzlich resignierende Lächeln einer Frau, die abgewiesen worden war, darüber aber nicht verletzt sein konnte.
Dragon blickte ihr nach. Ihr Geist war so voller Bilder gewesen, daß er sich selbst wie ein Blinder gefühlt hatte. Nun spürte er die große Leere wieder zurückkehren und kämpfte gegen die Enttäuschung an. Für ihn schien es nur Fragen zu geben – keine Antworten, keine Erinnerungen.
Ada verstand nichts mehr. Sie, die immer versuchte, so zu werden wie ihre Schwester, sah die Seherin zu ihrem Haus zurückgehen und wandte sich an Agrion. »Was hat das zu bedeuten?« fragte sie.
Agrion hob die Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Wir alle, Partho, du und ich, wir sind aus einer anderen Welt als Dragon und die Seherin.«
»Einer anderen Welt?« fragte Ada fassungslos. »Warum ist sie anders?«
»Auch das weiß ich nicht.«
Während Partho und Dragon davonritten, um bei den Hirten Essen einzuhandeln, unterhielten sich die jungen Frauen leise miteinander.
»Aber es sieht so aus, als wären da Bande zwischen unserer Welt und dieser anderen. Denke an den Vogel, der sich, vom Pfeil getroffen, in einen Fisch verwandelte.«
Ada bekannte: »Ich glaube, ich fürchte mich, Agrion!«
Agrion sah dem reitenden Partho nach. »Ich fürchte mich auch ein wenig«, sagte sie flüsternd. »Aber zusammen mit Partho und Dragon werden wir zumindest kein langweiliges Leben führen.«
Nach einer kleinen Pause fragte Ada: »Du liebst Partho, nicht wahr?«
Agrion schüttelte den Kopf und ging mit Ada langsam in den Schatten eines Vorsegels zurück, das zwei Zelte miteinander verband und zum Schutz gegen die Mittagssonne aufgespannt war.
»Nein!« bestritt Agrion. »Du mußt wissen, daß Frauen in Parthos Leben immer nur eine untergeordnete Rolle spielen. Er ist ein kämpfender Abenteurer, und das Leben an seiner Seite wäre nichts als Warten und Einsamkeit. Und da ich eine heimatlose Sklavin bin, kenne ich Einsamkeit und langes Warten zu gut. Wenn ich ihn liebe, dann weiß ich, daß es nur für kurze Zeit ist.«
Ada seufzte und sagte: »Eines Tages werde ich auch erwachsen sein. Dann werde ich verstehen, was zwischen Frauen und Männern vorgeht und was sie denken und fühlen.«
Agrion lächelte ein wenig schmerzlich und schlug den Zeltvorhang zurück. Sie blieb im Eingang stehen und sah hinunter auf die schlammigen Fluten des Raxos.
»Eines Tages, ja … Wir alle hoffen auf einen Tag. Für jeden bedeutet dieser Tag etwas anderes.« Dann schwieg sie.
Die neun Menschen warteten zwei Tage lang. Dann, kurz nach Sonnenaufgang, war das Wasser so weit gefallen, daß sie die Furt benutzen konnten.
Hoch über der Reitergruppe, für Parthos oder Amees Bogen unerreichbar, zog wieder ein schwarzer Sperber seine Kreise. Dragon warf hin und wieder einen sorgenvollen Blick zum Himmel und wußte, daß Cnossos sie
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