Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
reichten. Dazu einen kurzen Fellrock, darüber ein enges Mieder aus Wildleder mit Verzierungen aus weißem Fell. In einer Hand hielt sie einen weißen Stab, so groß wie sie selbst, die andere Hand lag im Nacken des Hundes, der wie eine Kreuzung zwischen Hirtenhund, Säbelzahntiger und Wolf aussah.
»Seid gegrüßt, erlauchte Reisende«, sagte die Frau. Ihre Stimme klang sinnlich. »Ihr wißt meinen Namen. Und ich wäre nicht, was ich bin, wüßte ich nicht auch den euren. Und deiner, Dragon, so kurz diese Welt ihn kennt, hat bereits finsteres Verlangen nach Rache geweckt. Ich sah deinen weißen Drachen gegen Cnossos’ Geier kämpfen.«
Dragon blickte sie erstaunt an. Er wollte den Gruß erwidern, aber Amee kam ihm zuvor.
»Sei gegrüßt, Maratha«, sagte sie kühl. »Du kennst mich, obwohl wir uns nie begegnet sind? Ich habe dich nie am Hof meines Vaters gesehen.«
»Der Weg dahin ist zu beschwerlich für eine blinde Frau, und in der Stadt herrscht niemals Stille.«
»Wenn du blind bist«, erwiderte Amee heftig, »wie kannst du dann gesehen haben, wie der Drache gegen den schwarzen Geier kämpfte?«
Das selbstsicherste Lächeln erschien auf dem Gesicht der jungen Frau, als sie antwortete: »Prinzessin, zwar bist du zu großen Taten ausersehen, aber du bist noch jung. Was sind neunzehn Sommer? Es gibt nicht nur Dinge, die man sehen und ertasten kann, sondern auch ein Reich ganz anderer Sinne, in der die Zeit nichts gilt und nichts die Entfernung.«
Inzwischen waren auch die anderen herbeigekommen und bildeten einen Halbkreis. Der Hund blickte aus großen Augen von einer Person zur anderen. Waren es seine Augen, die sie benutzte?
Die Seherin sagte: »In deinem Geist, Dragon, sind die leeren Räume eines Neugeborenen. Ich höre die fernen Echos eines anderen Lebens, die ich nicht deuten kann.«
Dragon murmelte, sein Amulett umklammernd: »Nur Echos? Sonst nichts …?«
Als seine Linke die Sonnenscheibe berührte, zuckte er zusammen. Sein Arm sank von der Schulter der Prinzessin. Alle beobachteten, daß sich Maratha und Dragon gegenüberstanden wie Gegner. Sie schienen einen lautlosen Kampf auszufechten.
»Was siehst du … was fühlst du, Liebster?« flüsterte Amee verzweifelt. In dieses Reich der Sinne hatte sie keinen Einblick.
»Sie spricht mit mir …«, murmelte Dragon in der Alten Sprache. »Sie trägt eine Maske …«
Amees Blick ging von dem Gesicht der Seherin zu dem Dragons. Plötzlich erfüllte sie neue Zuversicht. Das Gesicht des Mannes, den sie liebte, wurde hart und scharf. Linien, die sie niemals gesehen hatte, bildeten sich. Die Nasenflügel traten hart hervor, und die Kiefer preßten sich zusammen. Die Augen schlossen sich zu schmalen Schlitzen. So sah jemand aus, der dem Tod oder großer Gefahr gegenüberstand. Während das Gesicht Dragons härter wurde und dem Antlitz eines Mannes von vierzig Sommern zu ähneln begann, veränderte sich auch Maratha.
Ihr jugendlich strahlendes Gesicht bekam Fältchen und bildete neue Linien. Einige Augenblicke später sah sie aus wie eine Frau mittleren Alters, jünger als Iwa, aber älter als Amee. Auch ihr Körper veränderte sich, verlor die Straffheit und wurde, zwar noch immer höchst anziehend, zum Körper einer reifen Frau.
Das Leuchten des Amuletts erlosch.
»Sieh zum Himmel, Dragon!« sagte Maratha. »Siehst du den schwarzen Vogel mit weißen Flügelspitzen? Er ist ein Bote des Cnossos, des einzigen Feindes, den du auch noch fürchten mußt, wenn alle deine Kräfte erwacht sind.«
Partho begriff sofort. Er, der gelernt hatte, Drachen und Geier und Federn, die sich in Schlangen verwandelten, als Wirklichkeit zu betrachten, nahm seinen Bogen von einem Zeltstab, legte einen Pfeil an die Sehne und zielte kurz.
Der Pfeil traf den Vogel. In rasendem Flug, halb fallend, halb taumelnd, stürzte der schwarze Sperber dem Flußufer entgegen. Alle verfolgten den Sturz mit den Augen. Als der Vogel die Wasseroberfläche erreicht hatte, flossen seine Formen auseinander. Er fiel klatschend ins aufspritzende Wasser. Als er wieder hochgeschleudert wurde, noch immer den Pfeil quer im Körper, war er ein langer schwarzer Fisch.
»Ein neues Wunder!« entfuhr es Nabib.
Als der Fisch ein zweites Mal aus dem Wasser sprang, zerbrach der Pfeil in zwei Stücke. Der Fisch tauchte unter, und niemand zweifelte, daß er davonschwamm.
Dragon atmete tief ein und aus und fragte: »Weshalb muß ich Cnossos fürchten, blinde Seherin? Weshalb warnst du mich vor dem Gott
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