Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
»Schnell!«
»Und gefälligst auch Salz!« knurrte Zainu.
Man reichte ihm eine weiße Holzscheibe, ein Messer und eine Schale mit Salz. Mit großem Appetit begann er schmatzend zu essen und schnalzte nach den ersten Bissen anerkennend mit der Zunge.
Die Spannung löste sich ein bißchen. Zainu registrierte befriedigt, daß der alte Respekt vor ihm noch galt. In Wirklichkeit haßten sie ihn alle. Dem Stamm konnte kein schöneres Geschenk gemacht werden, als daß er, Zainu, vom Kamel fiel und sich den Hals brach.
Zainu schluckte das heiße Hammelfleisch mit der knusprigen, mit Honig und Milch bestrichenen Kruste hinunter und brüllte: »Ist jemand gestorben? Seid ihr Männer oder tote Fische? Seid ihr feurige Weiber oder alte Vetteln? Tanzt, sage ich! Tanzt!«
Sein Geschrei war zweihundert Doppelschritt weit im Umkreis zu hören. Überall rührten sich die Stammesangehörigen. Holz und trockener Kameldung wurden in die Feuer geschoben. Die Flammen loderten empor und bildeten an ihren Spitzen Rauchfahnen. Ein Geruch nach Wein und Hammelfleisch durchzog das Lager. Aufgeregt wieherten die Pferde, und ein Hund heulte erbarmungswürdig auf.
Der Schwarze holte Luft und wiederholte: »Habt ihr nicht gehört? Tanzen sollt ihr!«
Die Syrinx-Flöten wimmerten vieltönig auf. Die Rasseln schepperten, und rasende, trockene Trommelwirbel ertönten. Dazwischen die hämmernden, hellen Schläge der Schellenringe und die lauten, summenden und zirpenden Klänge der Harfen.
Ein großer Tonbecher wurde herumgereicht. Der Kreis der Sitzenden öffnete sich zu einem weiten Rund, in dem fünf oder sechs Feuer brannten. Die Männer schlangen schnell das heiße Fleisch hinunter. Die Frauen tranken Wein. Ein gewaltiger Lärm hub an, auch an vielen anderen Feuern.
Der Wein im Tonbecher war mit vielen Gewürzen und mit Honig und Hefe angereichert. Er brannte auf der Zunge wie flüssiges Feuer und stachelte die Sinne an. Die ersten Tänzer gingen aufeinander zu.
Dann begann der Tanz.
Uralte Themen und Variationen, die jedes Jahr, ja jeden Tag neu waren. Die jungen Männer vom Stamm der Unruhig Wandernden kamen aus der Dunkelheit hervor und gingen mit kleinen, stampfenden Schritten auf die Feuer zu. Der Boden dröhnte. Nach einer kurzen Zeit der Konfusion fand jeder den richtigen Takt.
Es dauerte nicht lange, dann stampften Hunderte von Füßen mit ledernen Stiefeln den Boden der Hochebene. Einige Augenblicke später hatten alle Männer den Takt gefunden.
Zainu brüllte: »Nicht so lahm! Strengt euch an! Wir leiern die heiligen Tage, ihr Faulpelze!«
Unmerklich, fast verschmolzen mit der Dunkelheit und dem Spiel der züngelnden Flammen, gingen die Tänzer ganz im Rhythmus auf. Ihre Füße berührten den Boden jetzt leichter und schneller. Ihre Körper zuckten vorwärts und rückwärts. Gleichzeitig drehte sich ein großer Kreis langsam um die Feuer.
Die Persönlichkeiten der Tänzer zerflossen, je länger die Männer sich zum Klang der hämmernden Töne bewegten, mehr und mehr. Ein uraltes Schema zeichnete sich ab. Ein Tanz, in dem Menschen eine unbekannte Gottheit aufforderten, gnädig und lebenserhaltend zu sein. Eine deutliche Bitte lag in den nach oben gereckten Köpfen, in den Armen, die alle elf Takte zum Firmament hinaufgerissen wurden. Selbst der Schwarze wurde ergriffen und bewegte sich hinter seinem Herrn im Takt.
Eine gewisse Schwere erfüllte die Luft. Es roch nach Fett und schmorendem Fleischsaft, nach Würzkräutern und krustendem Honig.
Es roch nach Schweiß und nach Leder, nach feuchtem Stoff und nach einem wilden, ursprünglichen Begehren.
Die Tänzer warfen ihre menschlichen Masken ab. Sie wurden zu einer einzigen Masse wirbelnder und zuckender Körper. Sie wurden, was die Bewegungen im Tanz betraf, zu Geschöpfen einer Welt, die voller Wunder und dunkler Geheimnisse war. Schließlich riß die Musik ab.
Stille breitete sich aus. Zainu hörte nicht einmal Atemzüge, nur das Knistern und Knacken des Holzes.
»Ganz brav!« brummte Zainu. »Ein wenig lahm allerdings. Nun, ich werde euch schon Beine machen.«
Die Stille dauerte lange. Als sie unerträglich wurde, kurz vor dem Augenblick, da man denken mußte, der Tanz hätte aufgehört, erklang ein wildes Geräusch.
Alle Instrumente spielten gleichzeitig. Das Blöken der Kamele, das Heulen und Kläffen der Köter, das Wiehern der Pferde – alles verschmolz zu einem wilden Crescendo.
Dann kamen die Mädchen und die jungen Frauen der Unruhig Wandernden. Sie
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