Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
Karawane zog ein schwarzer Sperber seine Kreise. Immer und immer tauchte er in den warmen Wind, der von den Ufern aufstieg. Hier sah man deutlich, daß der Raxos eine gelbe Färbung angenommen hatte. Seine lehmigen Fluten füllten fast das gesamte Flußbett aus. Vor einigen Tagen noch war der Fluß nur ein schmales Rinnsal in dem flachen, breiten Kiesbett gewesen.
»Der Mittag des dritten Tages«, sagte Partho. »Wir sind gut geritten. Hier gab es für viele Tage flußabwärts die einzige Furt.«
»Wie oft habe ich sie passiert – mit meiner juwelenfunkelnden Karawane!« jammerte Nabib laut. »Beladen mit Kostbarkeiten fremder Länder. Erlesene Sklavinnen und bärenstarke Sklaven saßen auf den Tieren, bereit, mir freudig lächelnd einen guten Wiederverkaufspreis zu ermöglichen, und weinend darob, daß sie den besten aller Herren verlassen mußten. O grausames Schicksal …«
»… das mich gezwungen hat, deine nimmer endenden Reden zu hören, du Nichtsnutz!« sagte Iwa vorwurfsvoll.
»Schweig, liebste Freundin!« sagte Nabib. »Vielleicht kann uns Maratha helfen.«
»Wer ist Maratha?« fragte Dragon.
»Eine rätselhafte Frau«, erläuterte Nabib. »Sie lebt mit einem Hund als Bewacher, und ihre Freunde sind die wandernden Hirten. Sie ist eine ältere Frau, aber längst nicht so zanksüchtig wie Iwa!«
Iwa bückte sich und warf einen Knüppel nach ihm. Er verfehlte Nabibs Kopf nur knapp.
Partho fügte hinzu: »Aus langjähriger Erfahrung weiß ich, daß der Fluß nur ein paar Tage lang Hochwasser führt. Wir lagern in der Nähe von Marathas Hütte. Von ihren Hirten bekommen wir frisches Fleisch, Milch und Käse.«
»Er sorgt trefflich für uns!« murmelte Nabib und zog die beiden Tiere, die lieber hier vom saftigen Gras fressen wollten, mit sich.
Bald sahen sie die Hütte in der Ferne und fanden einen geeigneten Lagerplatz. Parthos Männer machten sich sofort daran, die Packpferde zu entladen und die drei Zelte aufzustellen. Nabib und Dragon gingen ihnen dabei zur Hand. Partho sah sich in der unmittelbaren Umgebung um. Als er zurückkam, waren die Tiere versorgt, und ein Feuer brannte.
Iwa sagte leise zu Amee: »Nun, Mädchen?«
Die beiden Frauen sahen sich an. Die ältere fragend und verständnisvoll, die jüngere unsicher, aber trotzdem entschlossen.
»Was fragst du? Du weißt es selbst.«
Iwa flüsterte: »Es gibt zwei Wege. Langes Flötenspiel oder einen Schlag auf den Kopf. Welchen Weg willst du wählen?«
Amee lächelte und sagte dann, etwas nachdenklicher geworden: »Ich bin eigentlich für den Schlag, aber nicht bei Dragon. Ich muß ihn an mich gewöhnen. Langsam und stetig.«
Iwa nickte. »Gute Ketten wollen gut geschmiedet sein.« Sie deutete in die Richtung der weißen Steinhütte und meinte: »Fang gleich damit an! Dort kommt Maratha, und ich sehe, sie ist sehr schön. Schöne Frauen sind zahlreich, aber gute Männer sind rar. Der Kampf um sie wird allerorten erbittert geführt.«
»Ja!« sagte Amee. »Du hast recht.«
Sie nickte ihrer Amme zu, warf einen langen Blick hinüber, wo Agrion das Haar der jüngeren Schwester kämmte und flocht, dann ging sie auf Partho und Dragon zu und lehnte sich an den braunhaarigen Mann, der der näher kommenden Maratha entgegenblickte.
»Wer ist diese Frau?«
Amee warf einen langen, abschätzenden Blick auf Maratha. Sie sah, daß Dragons Amulett – er trug es unter dem dünnen, hellen Lederhemd, über dem der offene Schuppenpanzer lag – kräftig leuchtete. Aber längst nicht so stark wie beim Kampf mit Obad.
»Sie ist eine Seherin. Sie ist blind, aber viele Menschen sagen, daß sie unheimliche Kräfte besitzt.«
Unsicher sagte Dragon: »Sie … berührt mich … mit ihrem …«
»Womit, Dragon?«
Er schüttelte verwirrt den Kopf. »So, wie ich es tue, wenn ich mit dem Drachen rede …«
»Sie wird versuchen, dich in ihre Netze zu ziehen. Wenn sie versucht, dich mir wegzunehmen, werde ich sie umbringen müssen.«
Ihre Augen funkelten. Aber dann war sie an der Reihe, verwirrt zu sein, denn Dragon sagte: »Du brauchst sie nicht umzubringen. Niemand wird mich dir nehmen können!«
Er sagte es mit überaus großer Sicherheit. Dann drehte er sich um und legte seinen Arm um Amees Schultern. Er sah das siegesgewisse, feine Lächeln der Prinzessin nicht, denn seine ganze Aufmerksamkeit galt Maratha.
Sie war eine schöne, junge Frau, und sie sah ihn mit goldenen Augen an. Ihr Haar war lang und gelb. Sie trug Stiefel aus Pelz, die bis zu ihren Waden
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