Dragon Kiss (epub)
musterte Gwenvaels Bruder von Kopf bis Fuß. »Wirklich?«, bemerkte sie schließlich. »Hast du dir diesen Namen gegeben?«
Gwenvael und Morfyd schluckten ihr Lachen hinunter, bevor Morfyd das Mädchen fort und die Treppe hinaufzog. »Komm, Annwyl. Wir haben nicht viel Zeit.«
Briec lächelte ihnen höhnisch nach. »Ich hoffe, die Königin isst ihr Knochenmark zum Nachtisch.«
Gwenvael blickte finster. Wenn die beiden Feindinnen wurden – Annwyl und die Königin –, stand in den Sternen, wer von beiden als Gewinnerin hervorgehen würde. Sie waren gleichermaßen Furcht einflößende Frauen.
Gwenvael trabte die Treppe hinauf, Briec folgte dicht hinter ihm. »Denk daran, Briec. Sie hätte Vater fast umgebracht. Wir können also nur hoffen, dass sie miteinander zurechtkommen.«
Annwyl dachte, sie würden lange Strecken über Land reisen. Sie hatte falsch gedacht. Stattdessen ging Morfyd direkt nach oben. Höher und höher, bis sie den Gipfel des Berges Devenallt knapp oberhalb der Wolken erreichten. Dort befand sich der Hof der berüchtigten Drachenkönigin. Sie galt allgemein als Mythos, doch wie Fearghus stellte sie sich als nur allzu real heraus. Und Annwyl hatte keine Ahnung gehabt, dass eine ganze Gemeinschaft von Drachen immer so in der Nähe gewesen war. Sie hielten ihr Leben wahrhaftig vor den Menschen geheim. Und jetzt war Annwyl hier. Ein ganz gewöhnliches Mädchen, das jetzt durch die majestätischen Hallen des Hofes der Königin ging.
Als sie mit Morfyd die Haupthalle betrat, verstummten alle Gespräche. Die Drachen wandten sich ihr ausnahmslos zu. Sie musterten sie. Sorgfältig. Annwyl fühlte sich nackt und allein. Sie wünschte, Fearghus wäre bei ihr, doch sie wusste, dass er sie niemals hätte herkommen lassen. Er hätte es nicht aufs Spiel gesetzt – er hätte sie nicht aufs Spiel gesetzt. Der Gedanke zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht, und sie bemerkte Fearghus’ Vater nicht, bis sie praktisch gegen den alten Mistkerl stieß. Immer noch in Drachengestalt, Klaue und Schwanz frisch bandagiert. Seine verletzte Schnauze war mit einer Salbe beschmiert, vermutlich, um die Blutung zu stoppen.
Er blickte sie finster und mit kalten Augen von oben herab an, und Annwyl verspürte wieder diesen Wunsch zu fliehen. Aber die Befriedigung würde sie dem alten Mistkerl nicht verschaffen.
»Wie geht’s der Klaue?«, rief sie zu ihm hinauf. Morfyd schnappte nach Luft und nahm sie am Arm, zerrte sie eine weitere Treppe hinauf und in eine weitere Halle.
»Bitte versuche, dich nicht umbringen zu lassen, Annwyl. Fearghus würde mir das nie verzeihen.«
»Ich werde es mir merken.« Als sie die nächste Halle betraten, stockte auch hier wieder jegliche Drachenkonversation. Schweigend sahen ihr alle nach.
»Sie starren mich alle an.«
»Ja. Es ist Hunderte von Jahren her, seit das letzte Mal ein Mensch hier war.«
»Du meinst, ein Mensch, der nicht als Mahlzeit hierher gebracht wurde?« Morfyd zuckte die Achseln, sagte aber nichts weiter.
»Verstehe.«
Ein Drache kam auf Annwyl zu, und Morfyd zischte ihn an: »Bleib, wo du bist, Kesslene.«
»Ich wollte das hübsche Ding nur sehen«, verkündete der Drache der versammelten Mannschaft.
»He!«, blaffte Annwyl. Den Letzten, der sie als »Ding« bezeichnet hatte – Lorcan –, plante sie bald umzubringen.
Morfyd hielt Annwyl in Bewegung, obwohl der große Drache mit ihnen Schritt hielt. »Halt dich zurück, Kesslene. Abgesehen davon ist sie mit Fearghus zusammen. Und du erinnerst dich daran, was er mit dir gemacht hat, als du das letzte Mal sein Missfallen erregt hast.« Morfyd nahm diesmal eine Treppe nach unten, und der Drache Kesslene hörte auf, ihnen zu folgen, wenn er auch noch nicht ganz fertig war.
»Mit Fearghus? Wirklich? Und warum hat er sie dann nicht in Besitz genommen?«
»Mich in Besitz genommen?«
»Darüber kannst du dir später Gedanken machen, Annwyl.« Nach mehreren Minuten hielten sie vor einer weiteren Treppe an.
»Ihr Drachen habt wirklich eine Schwäche für Treppen.«
»Diese Treppe hoch und dann rein. Du weißt, was du zu tun hast.«
Annwyl nickte kurz, holte tief Luft, ging die Treppe hinauf und in das Gemach der Königin.
Die große Königin schwang mit einer Kopfbewegung ihre weiße Mähne aus den Augen und blätterte eine Seite in dem Buch um, das sie gerade las. Dabei klirrte leise die Kette, die an ihrem Halsband hing, und sie lächelte. Dann stieg ihr ein vertrauter Geruch in die Nase. Sie
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