Drahtzieher - Knobels siebter Fall
nicht, dass sich vieles ändert. Schlimm ist, dass vieles untergeht, was uns über Jahrzehnte verlässlich ernährt und unserer Gesellschaft Struktur gegeben hat. Alte Konzerne werden zerschlagen, umgebildet oder neu gegründet. Die alten Namen verschwinden teilweise, und neue Namen werden kreiert. Es sind häufig Kunstprodukte aus irgendwelchen Abkürzungen. Begriffe, die sich kaum im Bewusstsein verankern und schnell in der nächsten Fusion untergehen, bevor man sich überhaupt an sie gewöhnt hat. Die Vorstände der Unternehmen bestehen regelmäßig aus flüchtig bleibenden Namen, deren Träger mit dem Werk oder ihren Beschäftigten kaum verbunden sind. Diese Manager arbeiten heute in der Luftfahrt, morgen in der Lebensmittel-, dann in der Chemiebranche. Früher ging es um Tradition und Bindung, heute um fragwürdige Flexibilität, die oft nur ein Synonym für Beliebigkeit ist. Aber es gibt auch Namen, die geblieben sind. Aus Thyssen und Krupp wurde ThyssenKrupp und in der namentlichen Zusammenführung steckt selbstverständlich der Wille, die frühere wechselseitige Konkurrenz zu beenden und sich gemeinsam auf dem Weltmarkt zu positionieren. Die wahren Konkurrenten sitzen längst woanders, zumeist im fernen Ausland. Wer heute am Markt bestehen will, muss sein Angebot strikt nach der Nachfrage ausrichten und bereit sein, sich breiter aufzustellen, neue Produktionszweige zu eröffnen und dafür traditionelle Zweige zu schließen. ThyssenKrupp hat jüngst wieder radikale Einschnitte vorgenommen. Die benötigten Rohstoffe sind längst nicht mehr vor Ort, und darüber hinaus braucht man für die vitalen Produktionszweige Stoffe, die insgesamt nur begrenzt und unersetzbar auf der Erde vorhanden sind, nämlich insbesondere in China.«
»Das sind die seltenen Erden«, schloss Stephan.
Wanninger nickte. »Genau genommen sind es seltene Metalle. Man spricht nur deshalb von seltenen Erden, weil die Metalle in der Erde verborgen sind und aus ihr ausgewaschen werden müssen. Ihre Namen werden Ihnen nichts sagen. Ich habe mich auch erst in die Materie einarbeiten müssen«, erklärte er unerwartet nachsichtig und zählte aus dem Stegreif einzelne Metalle auf: »Scandium, Yttrium, Lanthan, Samarium, Lutetium. China hat das Glück, diesen Trumpf zu besitzen, und es wird diesen Trumpf ausspielen. Es hat sogar seine Fühler auf den Kontinent ausgestreckt, auf dem ebenfalls nennenswerte Vorräte an seltenen Erden lagern, und sich die Schürfrechte dort gesichert. Ich spreche von Afrika. Erinnern Sie sich an die Worte des chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao: Der Nahe Osten hat sein Öl, wir haben seltene Erden. Die Preise für seltene Erden sind in letzter Zeit stark gestiegen, und man ist sich in Politik und Wirtschaft einig, dass der Preisanstieg, mehr aber noch Chinas Praxis, den Export der seltenen Erden zu beschränken und die Absicht, die Einfuhr einzelner Metalle ganz einzustellen, um die Verlagerung der Produktion nach China zu erzwingen und die heimische Wirtschaft zu stärken, in absehbarer Zeit die anderen Kontinente vor erhebliche Probleme stellen wird, natürlich auch unsere heimische Industrie. Der Kampf um die Ressourcen ist längst entbrannt. Es geht weltweit um Wasser, Öl – und seltene Erden. Was Letztere angeht, hatten ThyssenKrupp und das Bundeswirtschaftsministerium bereits die Gründung einer Rohstoff-AG ins Spiel gebracht, ein Unternehmen also, das weltweit die hier dringend benötigten Stoffe beschafft und an unsere heimischen Industrien verteilt. Man will gegen die absehbare Rohstoffkrise gewappnet sein. Die Juristen prüfen, ob es kartellrechtliche Probleme gibt, und es ist zweifelhaft, ob diese Rohstoff-AG überhaupt zulässig ist. – Geben Sie die Begriffe ThyssenKrupp und seltene Erden bei Google ein, und Sie werden fündig!«
Wanninger beugte sich vor und sah Marie und Stephan lächelnd ins Gesicht.
»Das alles können Sie in den Medien nachlesen – oder Sie gehen einfach ins Internet. Die seltenen Erden sind ein Riesenthema, obwohl man in der Öffentlichkeit kaum etwas davon wahrnimmt. Aber eines dürfte gewiss sein: Selbst wenn die Rohstoff-AG rechtlich zulässig ist, werden die Probleme nicht gelöst sein. Denn es wird zum einen unter den heimischen Unternehmen einen Verteilungskampf geben, weil auch eine noch so gut gemeinte Rohstoff-AG das Buhlen um die knappen Güter voraussichtlich nicht zufriedenstellend lösen wird. Zum anderen aber wird die Rohstoff-AG bei den Stoffen
Weitere Kostenlose Bücher