Drahtzieher - Knobels siebter Fall
allem. Wissende Menschen sind selten auf dieser Erde. – Sie lassen sich doch nicht austrocknen, Herr Wanninger!«
Er reichte Marie und Stephan das Schreiben.
»Ganz gewöhnlich auf einem Computer geschrieben und mit handelsüblichem Drucker ausgedruckt. Dann vermutlich irgendwo kopiert und die Kopie an mich verschickt«, sagte Wanninger. »Nichts Auffälliges also. – Was halten Sie vom Inhalt?«
»Hört sich nach einer versteckten Botschaft an«, meinte Marie, »auch wenn sich die ersten Sätze vordergründig auf Ihre journalistische Arbeit beziehen.«
»So sehe ich das auch«, nickte Wanninger. »Der Hinweis auf die Villa ist natürlich der Wink mit dem Zaunpfahl, aber es geht um Ressourcen, ausgehendes Material, neue Wege. – Fällt Ihnen dazu etwas ein?«, fragte er, wissend, dass Marie und Stephan seine Frage nicht würden beantworten können.
»Sagt Ihnen die Rohstoff-AG etwas? Oder können Sie mit dem Begriff der sogenannten seltenen Erden etwas anfangen?«, fragte Wanninger weiter und wartete einen Augenblick.
»Beides sollte Ihnen nicht unbekannt sein«, belehrte er. »Die Medien beschäftigen sich immer wieder damit, und ich vermute, wir werden in Zukunft häufiger davon hören und lesen.« Er nahm Marie und Stephan prüfend ins Visier. »Eigentlich sind Sie beide alt genug, um das Ruhrgebiet noch so kennengelernt zu haben, wie es früher aussah: Eine Region voller Zechen und Stahlwerke, Schlote, die grauen und schwarzen Qualm in die Luft pusteten, der den Menschen das Atmen schwer machte. Schmucklose Wohnkolonien in grauen Städten, deren Kulissen von Fördertürmen und monströsen Werken geprägt wurden. Hochofenabstiche, die den Nachthimmel in gespenstisches Rot tauchten, Kokereien, die den Gestank fauler Eier verbreiteten. Das Ruhrgebiet galt als das industrielle Herz Deutschlands, aber die Bevölkerung anderer Regionen wollte mit diesem Herzen nicht viel zu tun haben. Hier, wo nach landläufiger Meinung die Briketts durch die Luft flogen und die Außentemperatur immer ein bis zwei Grad niedriger war als anderswo, weil die Luftverschmutzung wie eine Glocke über dem Gebiet von Duisburg bis Dortmund hing und die Sonneneinstrahlung filterte, wurde der wirtschaftliche Reichtums Deutschlands maßgeblich begründet. Aber geliebt wurde die Region nur von denen, die hier wohnten. Doch das Aussehen des damaligen Ruhrgebiets hat mit dem heutigen fast nichts gemein.«
»Ich stamme aus dem Münsterland, bin erst zum Studium hierher gekommen«, sagte Marie, und es klang entschuldigend.
»Es ist Allgemeinwissen«, konstatierte Wanninger. »Ich schätze Sie auf etwa 30 und Sie, Herr Knobel, auf um die 40. Sie haben diese Zeiten doch miterlebt, wenn auch als Kinder oder Jugendliche. Es ist auch von Ihnen erlebte Geschichte.«
Wanninger hatte mit seinen Altersschätzungen recht, doch Stephan vermutete, dass er sich die Informationen vorher beschafft hatte. Er führte ihn und Marie mit unübersehbarer Arroganz vor und genoss es zugleich, beide an sich zu binden, um sie tiefer in eine Geschichte einzuführen, zu der er offensichtlich akribische Vorarbeit geleistet hatte, die mit dem Tod Liekes in Zusammenhang zu stehen schien und deren Kenntnis für die Lösung des Falles unverzichtbar war.
»Das alte Ruhrgebiet war eine Region mächtiger Werke und Konzerne«, fuhr Wanninger fort. »Krupp, Thyssen, Hoesch, Klönne, all dies sind große Namen. Sie prägten die alte Industriestruktur, waren Garant für eine blühende Wirtschaft und für die Beschäftigten viel mehr als das. Die Werke boten ein Zuhause, waren Basis der eigenen Familie. Es gab Tausende von Familien, in denen Großväter, Väter und Söhne dieselben Arbeitgeber hatten. Diese großen Namen waren so etwas wie Heimat.« Er schmeckte dieses Wort nach, gab sich der Tradition verhaftet, beklagte unausgesprochen den Verlust prägender Werte und bildete mit seiner unverhohlen dozierenden und zugleich verklärenden Darstellung einen eigentümlichen Widerspruch zu seiner eigenen Arbeit, in der er sich der Hektik verschrieben hatte, dem Prinzip, immer auf dem Sprung, stets am Puls der Zeit und niemals gebunden zu sein.
»Sie wissen, dass es diese Strukturen nicht mehr gibt«, fuhr er fort. »Wir leben in einer globalisierten Welt. Das ist mehr als nur ein scheußlicher Begriff. Die sogenannte globalisierte Welt ist zugleich die Bezeichnung einer Entwicklung, die für unsere Welt wahrscheinlich negativer sein wird, als wir heute ahnen können. Schlimm ist
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