Drahtzieher - Knobels siebter Fall
versagen, die hier nachgefragt, von China aber einfach nicht mehr ausgeführt werden, weil man die Industriezweige, die hier zwingend auf diese Stoffe angewiesen sind, austrocknen will. Das eröffnet dem Schwarzmarkt Chancen, und zwar einem organisierten Schwarzmarkt, der an der offiziellen Wirtschaftspolitik und den Gesetzen vorbei den erforderlichen Nachschub sicherstellt.«
Er hielt inne und schaute unverwandt geradeaus. Die kleinen Segelboote auf dem See, die Trauben von Spaziergängern, die sich über den Uferweg drängten, das unbeschwerte Sich-treiben-Lassen standen im irrealen Gegensatz zu dem, worüber Wanninger sprach. Die Ruine der Burg Blankenstein thronte auf der auf dem gegenüberliegenden Flussufer gelegenen Anhöhe im milden Sonnenlicht, das sich in der Ruhr funkelnd spiegelte. Es war ein romantisches Bild, unvereinbar mit der gewinnsüchtigen globalisierten Welt.
»Sie vermuten einen Zusammenhang zwischen Liekes Tod und dieser wenig greifbaren Geschichte?«, fragte Stephan ungläubig.
»Es könnte einen Zusammenhang geben«, relativierte Wanninger, »und Sie werden nach genauer Überlegung zugeben müssen, dass all dies nicht fernliegend ist und die Worte in dem anonymen Brief einen solchen Schluss nicht abwegig erscheinen lassen, zumal die von mir geschilderten Hintergründe nachweisbar zutreffen. Was macht die deutsche Industrie, wenn sie ausgehungert wird und wenn die Rohstoffquellen für sie geschlossen werden? Es kommt ein Szenario auf uns alle zu, dessen Ernst und Reichweite wir nicht erfassen wollen«, war sich Wanninger sicher.
»Lieke van Eyck und ihren Tod in diesen Kontext zu stellen, fällt reichlich schwer«, gestand Marie.
»Natürlich!«, stimmte Wanninger zu. »Aber es hat sich immer bewährt, ungewöhnlichen Gedanken Raum zu geben. Alle Ungereimtheiten, die sich mit Liekes Tod verbinden, harren einer Auflösung. Und meine Theorie ist zumindest ein Ansatz.«
»Eine bloße Idee«, konkretisierte Stephan.
»Nein, Herr Knobel«, widersprach Wanninger ruhig, »es ist mehr als eine Idee. Ich habe gelernt, Spuren nachzugehen, die den Dingen auf den Grund gehen. Und häufig, sehr häufig, bin ich belohnt worden. Das unterscheidet uns offensichtlich. Ich erinnere an das Akteneinsichtsrecht«, feixte er.
»Sie sagten vorhin, dass Sie zunächst in der Ermittlungsakte nichts entdeckt haben«, sagte Stephan.
»Schön, dass Sie auf meine Wortwahl geachtet haben«, lobte Wanninger. »Ich habe nach Erhalt des zweiten anonymen Briefes die Villa Wolff in Augenschein genommen, mir von Sadowski die Ereignisse des 16. Dezember schildern lassen, recherchiert, wie Drauschner zur Villa und wieder von ihr weggekommen sein könnte und mir natürlich noch einmal die Akte angeschaut«, erklärte er. »Der Brief hatte mich motiviert, und meine eben dargelegten Erkenntnisse haben mich neugierig gemacht. Genauer gesagt: Ich hatte Blut geleckt.« Bei diesen Worten verzog er sein Gesicht, das plötzlich konzentriert und angespannt wirkte. Er griff wieder in die Innentasche seiner Anzugjacke und fingerte die Fotokopie eines Fotos heraus.
»Das ist das Wrack des Fahrzeugs von Lieke van Eyck, aufgenommen nach dem Unfall«, erklärte er und reichte Marie das Foto. »Sie brauchen keine Sorge zu haben, Sie werden die tote Lieke darauf nicht sehen. Betrachten Sie ganz entspannt das Foto und sagen Sie mir, was Ihnen auffällt.«
Marie und Stephan betrachteten das Bild. Es zeigte das unversehrt gebliebene Heck des Fahrzeugs. Das Foto war mit Blitzlicht geschossen. Das Fahrzeug war durch den Blitz aufgehellt, rechts und links verlor sich das Kunstlicht in der Dunkelheit, im Hintergrund leuchtete der reflektierende Stoff der Weste eines Rettungssanitäters.
»Überlegen Sie genau!«, forderte Wanninger. »Ich sagte ja, dass ich es auf den ersten Blick auch nicht erkannt habe.« Er gab sich wieder nachsichtig und freundschaftlich. Stephan merkte, dass er sich ihm und Marie nähern wollte und deshalb seine arrogante Lehrerrolle ablegte. Zugleich wurde Stephan klar, dass Wanninger die Ermittlungsakte nicht bloß eingesehen, sondern es auf irgendeine Weise auch geschafft hatte, die Unterlagen komplett zu kopieren. Stephan hatte bei seiner Akteneinsicht den Fotos vom Unfalltod keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Sie dokumentierten einen schrecklichen Augenblick, legten Zeugnis ab über einen Ort, an dem ein Mensch zu Tode gekommen war.
Marie schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich bin allerdings
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