Drahtzieher - Knobels siebter Fall
auch keine Sachverständige.«
Wanninger nahm ihr das Bild aus der Hand und hielt es wie eine Monstranz in die Höhe.
»Es ist so deutlich, dass man es fast übersieht«, frohlockte er. »Dieses Fahrzeug ist schmutzig! Sie sehen, dass das hier sichtbare Wagenheck, welches nicht in den Aufprall involviert war, stumpf und etwas gräulich aussieht. Obwohl mit Blitzlicht fotografiert wurde, spiegelt sich nirgends der Blitz im Lack. Das Fahrzeug sieht aus, als wäre es mit einer feinen stumpfen Substanz eingestäubt worden. Kein klobiger Dreck wie etwa hochgespritzter Schlamm. Nur das Heckfenster ist sauber. Und zwar nicht nur im Aktionsradius des Heckscheibenwischers, sondern die gesamte Fensterfläche. Im Fenster spiegelt sich der Blitz des Fotoapparates. – Nun meine Frage: Sieht so ein Auto aus, das Lieke van Eyck gefahren hätte? Lieke, eine 37-jährige Frau, deren unangefochtenen, hervorstechenden Tugenden Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und eben Sauberkeit sind? Fährt eine solche Frau mit einem Auto herum, das so schmutzig aussieht?«
Wanninger genoss es, Marie und Stephan überrascht und sprachlos gemacht zu haben.
»Ich habe mich dezent bei Liekes Arbeitskollegin Christa Daschek erkundigt. Liekes Auto sah stets – wie sie selbst – wie aus dem Ei gepellt aus, und ich habe in Erfahrung bringen können, dass Lieke an einer Tankstelle in der Nähe der ThyssenKrupp-Hauptverwaltung in Essen jede Woche, präziser, jeden Freitagmorgen, das Auto innen und außen reinigen und zugleich volltanken ließ. Sie rührte das Auto nicht an, ließ sich vom Tankwart auch noch die Scheiben vom Fliegendreck reinigen. Lieke machte sich nie die Hände schmutzig. Am Unfalltag und auch an den Tagen zuvor herrschte durchgehend gutes Wetter. Es gab keinen Regen oder sonstige Witterungslagen, die die Verschmutzung des Fahrzeugs erklären könnten, zumal der Wagen, wie sich die Kollegin zu erinnern glaubt, am Tag des Unfalls wie üblich sauber auf dem Firmenparkplatz gestanden hat. Eine solche Verschmutzung wäre aufgefallen, Herr Knobel. Denn sie ist ganz und gar untypisch für Lieke van Eyck.«
»Was folgern Sie daraus?«, fragte Stephan dünn, die Überlegenheit Wanningers anerkennend.
»Das Fahrzeug hat bei dem Unfall einen Totalschaden erlitten. Es wurde von einem Abschleppunternehmen auf dessen Betriebshof verbracht, dort kurz von einem Sachverständigen begutachtet und dann – und in Abstimmung mit Anne van Eyck – zu einem Schrotthändler nach Wanne-Eickel transportiert. Was unser unerwartetes Glück ist, Herr Knobel, denn dort ist das Auto noch immer vorhanden. Ich habe das Wrack in Augenschein genommen, fotografiert, und – was wichtig ist – Proben von dem Schmutz genommen, der noch immer auf dem Auto existent ist, obwohl natürlich einige Monate und etliche Unbilden der Natur darüber hinweggegangen sind.«
»Und?«, fragte Stephan.
Wanninger lächelte gütig.
»Seien Sie nicht so bescheiden, Herr Knobel! Sie hätten dasselbe getan, wenn es Ihnen aufgefallen wäre. Ich habe den Schmutz in einem chemischen Labor analysieren lassen und ein eindeutiges Ergebnis erhalten. Es handelt sich um Siliciumdioxid, und durch Recherchen bei der hiesigen Umweltbehörde und aus Presseberichten konnte ich in Erfahrung bringen, dass dieser Stoff am 12. September des letzten Jahres gegen 19.30 Uhr in großen Mengen von der im Dortmunder Hafengebiet ansässigen Cleanochem AG in die Luft geblasen wurde. Es handelt sich um einen Stoff, den das Unternehmen jedes Jahr tonnenweise, verteilt auf einige wenige Daten, emittiert und bisher als harmlos galt. Ob das so ist, wird von vielen bezweifelt, denn der Fallout zieht vor allem Autos in Mitleidenschaft, auf deren Lack merkwürdige Flecken, Streifen und Verätzungen festzustellen sind. Es steht unzweifelhaft fest, dass Lieke van Eyck am Unfalltag nach Dienstschluss eine Fahrt hier nach Dortmund unternommen hat. Sie parkte im Umkreis von höchstens drei Kilometern um die emittierende Industrieanlage und ist irgendwann später von dort aufgebrochen, offensichtlich nach dem Genuss von Alkohol, bis sie bei dem bekannten Unfall zu Tode kam. Es ist völlig eindeutig: Lieke van Eyck kam an jenem Abend nicht von der ThyssenKrupp-Hauptverwaltung in Essen, sondern hat vermutlich die A 2, aus Dortmund kommend, in Gladbeck verlassen und von dort ihren schicksalhaften Weg über die B 224 genommen. Die entscheidende Frage lautet also: Was machte Lieke van Eyck an diesem Tag in dem besagten
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