Drecksspiel: Thriller (German Edition)
das Wasserglas auf den Tisch. »Nimm jetzt deine Tabletten.«
Ihre Mutter schüttelte entschieden den Kopf. »Auch wenn dein Vater so tat, als sei alles in Ordnung …« Sie stampfte zornig mit dem Fuß auf das Parkett. »Ich habe gespürt, dass da was ist.«
Susanne drückte zwei Tabletten aus einem Filmstreifen und legte sie ihrer Mutter in den Mund. Die alte Frau spülte die Medizin hinunter. Wieder lief das Wasser über ihr Kinn und tropfte auf ihren Schoß. Dann fiel sie aufs Sofa zurück und versank in trotziges Schweigen, den Blick starr auf das Foto ihres Mannes an der Wand gerichtet.
David stand auf und wollte sich von ihr verabschieden. Seine Hand schwebte in der Luft, ohne dass Horsts Witwe sie ergriff. Eine Träne rann über ihre Wange.
»Bitte«, flüsterte Susanne, während sie David hinaus in die Diele begleitete, »Sie dürfen Sie nicht für verrückt halten.«
Er antwortete nicht.
»Es geht ihr nicht gut.« Sie blieb neben der schmalen Sitzbank stehen, presste die Lippen aufeinander, rang mit sich selbst. »Mama hat Demenz. Noch im Anfangsstadium, aber jetzt, wo Papa nicht mehr ist … Sie wird wohl in ein Heim müssen. Ich habe selber Kinder, kann nicht rund um die Uhr auf sie aufpassen und … Sie sehen ja, wie es hier ausschaut.«
»Das tut mir leid.«
»Und das ist einer der Gründe, warum Papa sich das Leben genommen hat: erst seine Entlassung, seine Depressionen, dann Mamas Demenz, ihre immer häufiger werdenden Aussetzer. Das alles war zu viel für ihn.«
Erschöpft fuhr sich die junge Frau durchs Haar, bevor sie weitersprach: »Und jetzt kommt Mama nicht klar mit seinem Tod. Ist doch auch verständlich nach so vielen gemeinsamen Jahren. Sie begreift schon, dass Papa sie mit der Krankheit alleingelassen hat. Aber seit sie auch noch erfahren hat, dass er, also, dass er eine Geliebte hatte …«
»Er hatte was?«
»Ja, Sie haben richtig gehört.« Die Worte verließen nur widerwillig ihren Mund. »Eine Geliebte. Wahrscheinlich schon seit Jahren. Irgendeine tschechische Hure.«
»Wie kommen Sie darauf?«
Sie schnappte nach Luft, zornig und traurig zugleich. Sie wühlte in dem Zettelchaos auf der Sitzbank. Das Briefkuvert, das sie zum Vorschein brachte, war zerknittert und abgegriffen. Es enthielt ein förmliches Anschreiben und ein Foto. »Dieser Bußgeldbescheid wurde uns vorgestern zugestellt.«
Der Schnappschuss zeigte ihren Vater – geblitzt bei Tempo 95, wo nur 60 erlaubt gewesen war. Neben ihm, am äußeren Rand des Bildes, war deutlich das helle Antlitz einer jungen, attraktiven Frau zu erkennen.
»Verstehen Sie jetzt, warum sich Mama lieber einredet, er wäre von irgendwelchen Schatten der Vergangenheit in den Tod getrieben worden?« Verächtlich stieß sie die Luft aus ihren Lungen. »Aber welchen denn?«
Wortlos öffnete David die Haustür und durchquerte den Vorgarten. Über den Sträuchern hing der Gestank überreifer Äpfel und Pflaumen.
Er setzte sich hinters Steuer und stierte hinaus in die Nacht.
Die Mondkugel verschmolz mit der Frau auf dem Foto. Klar und deutlich leuchtete ihr Gesicht vor seinen Augen. Als hätte es sich in seine Netzhaut eingebrannt, damit er es nie wieder vergaß. Aber das hatte er nicht, in all den Jahren nicht. Es gab keinen Zweifel mehr. Horst ist nicht einfach von der Brücke gesprungen.
Einem bösen Omen gleich, gab sein Handy ein Zeichen. Flieg, flieg, fahr aus der Haut. David ließ es summen, bis es aufhörte. Gleich darauf begann es von vorne. Er aktivierte die Freisprechanlage.
»Ich dachte, es ist wichtig«, maulte Peter.
*
Hannah erstarrte in der Bewegung.
Jetzt hat er euch! Es ist vorbei!
Wetterleuchten erhellte den Himmel, die Gestalt entpuppte sich als Baum, dessen Äste im Wind schaukelten.
Nur ein Baum! Hannah ächzte erleichtert, während das Zwielicht sie wieder umhüllte. Nur ein beschissener Baum!
Sie ließ den schattigen Riesen hinter sich und hetzte weiter. Ihre Beine wurden schwerer. Sie keuchte. Ihr Unterleib verkrampfte sich. Alles in ihr schrie nach einer Pause.
Nur eine Pause, eine kurze Pause.
Hannah stolperte vorwärts. Ihre Lunge rasselte. Sie konnte nicht mehr laufen. Nicht einen Meter. Trotzdem quälte sie sich weiter. Sie musste endlich ein Haus finden. Menschen. Hilfe.
Unterholz knirschte. Es klang wie Schritte.
Mach dich nicht verrückt!
Doch es fiel ihr schwer. Sie streichelte Millie, die zwischen ihren Händen hing. Viel zu ruhig.
Lauf weiter! Worauf wartest du?
Hannah stöhnte.
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