Drei Dichter ihres Lebens
Sinne auflockern, eine dunkle Ecke, die hilfreich seine Leiblichkeit verschattet, ein paar Gläser Punsch: und vielleicht, vielleicht finden ihn um Mitternacht dann die Frauen doch charmant.
Film seines Lebens
1799. Die Postkutsche von Grenoble nach Paris hält zum Pferdewechsel in Némours. Aufgeregte Gruppen, Plakate, Gazetten: der junge General Bonaparte hat gestern in Paris der Republik den Genickfang, dem Konvent den Fußtritt gegeben und sich zum Konsul gemacht. Alle Reisenden debattieren ereifert, nur ein sechzehnjähriger Bursche, breitschultrig, rotbackig, bezeigt wenig Aufmerksamkeit. Was schert ihn die Republik oder Konsulate, er fährt nach Paris, angeblich, um in der École Polytechnique zu studieren, aber in Wahrheit, um der Provinz zu entrinnen, Paris zu erleben, Paris, Paris! Und sofort füllt sich die ungeheure Schale dieses Namens mit buntem Geström von Träumen. Paris, das heißt Luxus, Eleganz, Beschwingtheit, Antiprovinz, Freiheit, und vor allem Frauen
, viele Frauen. Irgendeine junge, schöne,zarte, elegante (vielleicht jener Victorine Cably ähnlich, jener Schauspielerin in Grenoble, die er schüchtern von ferne geliebt) wird er plötzlich auf eine romantische Weise kennenlernen
, er wird sie retten aus dem zerschmetterten Kabriolett, indem er sich den durchbrennenden Pferden entgegenwirft, irgend etwas Großes, so träumt er, wird er für sie tun, und sie wird seine Geliebte sein.
Die Postkutsche holpert weiter
und zerrädert unbarmherzig diese vorzeitigen Träumereien. Kaum wirft der Knabe einen Blick auf die Landschaft, kaum spricht er zu seinen Begleitern ein Wort. Endlich hält der Postillion am Schlagbaum. Dröhnend rollen die Räder über die buckligen Straßen, in die engen, schmutzigen, überhohen Häuserschluchten hinein, dumpfig vom Geruch ranziger Speisen und schweißiger Armut. Erschreckt sieht der Enttäuschte sein Traumland an. Das also ist Paris, »ce n'est donc que cela?« Nichts als das ist Paris? Immer wieder wird er dies Wort später wiederholen: nach dem ersten Gefecht, beim Übergang der Armee über den St. Bernhard, in der ersten Liebesnacht. Immer wird diesem unmäßigen romantischen Verlangen die Wirklichkeit schal und flau erscheinen nach so überschwenglichen Träumen.
Sie laden ihn ab vor einem gleichgültigen Hotel in der Rue Saint-Dominique. Dort in einer Mansarde des fünften Stockes, eine Luke statt des Fensters, rechte Brutstätte zorniger Melancholie, haust der kleine Henri Beyle nun ein paar Wochen, ohne einen Blick in seine Mathematikbücher zu tun. Stundenlang trottet er auf den Straßen, sieht den Frauen nach: wie sind sie doch verführerisch in der neurömischen Mode der Nacktheit, wie entgegenkommend scherzen sie mit ihren Verehrern, wie wissen sie zu lachen, anlockend und leicht; aber er wagt sich an keine heran, der linkische dumme Junge im grünen Provinzüberrock, sehr wenig elegant und noch weniger verwegen. Nicht einmal zu den geldgefälligen Mädchen, die um die Öllaternen billig streichen, traut er sich hin und beneidet verbissen die kühneren Kameraden. Er hat keinen Freund, keine Gesellschaft, keine Arbeit: mürrisch träumt er in Erwartung romantischer Abenteuer durch die schmutzigen Straßen, so ganz in sich verloren, daß er manchmal in Gefahr gerät, von einem Wagen überrannt zu werden.
Endlich, niedergemürbt, ausgehungert nach Rede, Wärmeund Vertraulichkeit, macht er Besuch bei seinen Verwandten, den reichen Darus. Sie sind nett zu ihm, laden ihn ein, ziehen ihn in ihr schönes Haus, aber – Erbsünde für Henri Beyle! – sie stammen aus der Provinz, und das verzeiht er ihnen nicht; sie leben bürgerlich, reich und behäbig, indes seine Börse fadenscheinig schlottert, und das erbittert ihn. Verdrossen, schweigsam, linkisch, ihr geheimer Feind, sitzt er mit ihnen bei Tisch, sein brennendes Verlangen nach Zärtlichkeit versteckend hinter muffiger und ironischer Bockigkeit: ein unangenehmer, undankbarer Patron, wie wahrscheinlich die alten Darus heimlich konstatieren. Spät abends kommt dann, abgehetzt, müde und verschlossen, aus dem Kriegsministerium der Heros der Familie, Pierre (später Graf) Daru, die rechte Hand des allmächtigen Bonaparte. Seiner innersten Neigung nach wäre der Kriegsmann lieber Kollege dieses kleinen Dichters (den er, weil er sich so schweigsam vermauert, für einen linkischen Dummkopf hält, und vor allem ungebildet wie einen Karpfen); denn er übersetzt in seinen Mußestunden Horaz, schreibt
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