Drei Generationen auf dem Jakobsweg
offensichtlich ganz gut. Zumindest schmerzten meine Füße nicht mehr allzu sehr. Trotzdem liefen wir für einen sogenannten Ruhetag ganz schön weit umher. Plötzlich kam mein Mann mit einem Päckchen zu mir. Er überreichte es mir mit den Worten: »Das ist für dich, mein Schatz !« Als ich es auspackte, befand sich darin, das gestern von mir in der Auslage eines Juweliers gesichtete Lederarmband mit Swarovski-Steinen. Ich staunte nicht schlecht über die Beobachtungsgabe meines Mannes. Als er mir mit dem Verschluss behilflich war, sagte er: »Das Armband ist anstelle einer Tapferkeitsmedaille wegen der ertragenen Schmerzen für dich gedacht .« Habe ich nicht einen erstaunlichen Mann? Immer denkt er zuerst an die anderen.
Schon war es Zeit, an das Abendessen zu denken. Heute wollte ich mit meiner Familie einen besonders schönen Abend verbringen. Hinter unserem Hostal hatten wir heute Morgen ein etwas nobleres Restaurant entdeckt. Hier wollten wir unsere Kinder abends einladen. Doch bevor wir das taten, rief ich nochmals unsere rettenden Engel, Martina und Daniel, an. Ich hatte zwar ein schlechtes Gewissen, sie nochmals um Hilfe zu bitten, doch der Gedanke an die ganzen Fahrradpilger und mit Koffertrolleys vorausrollenden Buspilger nahm mir jegliches Schamgefühl. Kaum hatte ich gewählt, war Martina auch schon am Telefon. Auf meine Bitte, uns doch für unsere nächsten Etappen Zimmer zu reservieren, kam nur ein ganz spontanes: »Selbstverständlich, machen wir doch gerne !« Ich nannte ihr die von uns gesteckten Etappenziele der nächsten acht Tage und sie reservierte. Alles klappte. Nun mussten wir zwar täglich auch tatsächlich die gesteckten Ziele gehen, jedoch konnten wir uns mehr Zeit lassen, denn jetzt kam es nicht mehr darauf an, ob wir um drei Uhr oder erst um fünf oder sechs Uhr ankamen.
Mit diesem sehr guten Gefühl machten wir uns nun endgültig auf den Rückweg in Richtung Abendessen. Wir aßen vorzüglich, tranken ein Gläschen guten Weines, viel Mineralwasser, um unsere Akkus aufzufüllen, verabredeten uns für den nächsten Tag früh um halb acht zum Frühstück und gingen anschließend satt und zufrieden ins Bett.
10. Juni León – Virgen del Camino (8 km) – Hospital de Órbigo (28 km)
Das Frühstück bestand heute aus ein paar alten Keksen für uns und Zitronenkuchen vom gestrigen Tag für unsere Kleine sowie einem großen Schluck Wasser aus unserer Flasche. Heute entschieden wir uns kurzerhand von León bis Virgen del Camino – acht Kilometer – mit dem Bus zu fahren. Immerhin hatten wir dann immer noch 28 Kilometer Fußmarsch vor uns. Jedoch sollte uns auch die anschließende Etappe nichts Aufregendes bieten. Immer der Straße entlang. Einige Pilger vor uns, einige Pilger hinter uns. Mal überholten wir sie, dann diese wieder uns. Franziska saß wie immer brav in ihrem Wagen und beobachtete die Leute. Nach einer Stunde Gehzeit entschied sie sich auszusteigen. So schlenderten wir langsam weiter. Wie schön es doch war, ohne Zeitdruck den Tag einfach kommen zu lassen.
Der Weg zog sich heute fast schnurgerade durch einige kleine Ortschaften und auch meine Füße machten mir heute weniger Schwierigkeiten als sonst. Den Rucksack spürte ich nicht mehr. Allerdings waren wir heute alles andere als kommunikativ. Auch mir hing die gestrige Auseinandersetzung mit meiner Tochter noch sehr nach. Die Kleine sorgte zwar immer wieder für Unterbrechung meiner Gedanken, indem sie dieses und jenes wissen wollte oder in ihrer sehr kindlichen Art einfach feststellte. Doch konnte ich meine Gedanken nicht einfach abstellen.
Heute dachte ich sehr über die Vergangenheit nach, und obwohl ich eigentlich ein positiv denkender Mensch bin, zog es mich ein bisschen nach unten. Ich dachte an die Kindheit meiner Tochter. Ich war immer sehr froh sie zu haben. Ich war immer stolz auf sie, auch wenn es mal gerade nicht so gut lief! War ich in jungen Jahren in einigen Dingen zu lasch und vielleicht zu streng in anderen Dingen gewesen? Kann eine Mutter immer alles richtig machen? Natürlich habe ich Fehler gemacht. Natürlich würde ich auch aus meiner heutigen Sicht vieles anders machen. Wie war das alles denn damals? An vieles konnte ich mich erinnern, aber nicht an alles. Waren die Vorwürfe zu Recht oder überspitzt, jetzt auf diesem Weg aus der Situation heraus? Nach einiger Zeit entschied ich mich die Gedanken nicht mehr zu beachten, da ich dies alles jetzt und alleine nicht klären konnte.
Die Zeit verging
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