Drei Irre Unterm Flachdach
unserm Bungalow herrschte das Chaos. Großmutter war eine Schlampe und Großvater ein Pedant. Die beiden lagen sich ständig in den Haaren. Was Gustav gerade geordnet hatte, brachte Wilma im nächsten Moment durcheinander, i n dem sie vorgab, etwas zu suchen. »Wo haste denn nu dit Schreiben jelassen, Täve?« fragte sie gereizt, während sie demonstrativ hinter ihm hersuchte, mit einem unglaublichen Vorwurf im Blick. Das machte Großvater ganz verrückt. Er nannte Gro ß mutter einen widerlichen Hausdr a chen und giftete, sie solle hinter seinem Rücken verschwinden. Doch Wilma schaltete auf Durchzug und wurschtelte unbeirrt we i ter in Gustavs heiligen Papieren, bis ihm der Kragen endgültig platzte.
Abends, wenn sich die beiden wieder vertragen hatten, was spätestens zu den Zwanzig-Uhr-Nachrichten passiert war, tä t schelte er ihre Wange und nannte sie zärtlich seinen Feuerfurzvogel. Als ich Großmutter eines Tages fragte, ob Großvater das sel t same Wort im KZ gelernt habe, sah sie mich entsetzt an und sagte, ich solle den Quatsch mal ganz schnell vergessen, so was lerne man nicht im KZ.
Wenn nichts mehr dazwischenkam, verlief bis zum Zubettgehen alles frie d lich, bis der Hickhack am nächsten Morgen von vorne losging. Mal schlug ich mich auf Gustavs, mal auf Wilmas Seite, und wir schrien alle gleichzeitig aufe i nander ein. So lernte ich, mich durchzusetzen.
Eine Sache aber blieb vom Chaos verschont. Selbst Großmutter schien davor Respekt zu haben, denn auch sie rührte diese seltsame Kiste, die im Wan d schrank auf dem Korridor versteckt war, nicht an. Der Schrank war wie fast alle von Großvater selbstgebauten Möbel aus dunkelbraunen Sperrhol z platten und hatte runde Türgriffe aus goldenem Blech. Im unteren Teil hingen Wilmas ausufernde Kleidersammlung und einige Wi n termäntel. In einer der Innentüren war, aufgereiht auf eine alte Paketschnur, Gustavs prachtvolle Schlips- und Gürte l sammlung untergebracht. Die Glitzerschlipse mit dem Lurexfaden band ich um Stirn und Bauch und spielte Pirat oder indischer Geschäftsmann. Aus den Gü r teln bastelte ich mir Zaumzeug und befestigte es an der Stuh l lehne. Dann bestieg ich mein Pferd und war ein reitender Bote, der Nachrichten aus der Sowje t union brachte. Großvater wäre ausgeflippt, wenn er mich so gesehen hätte.
Ich kramte zwischen den Kleidern und Mänteln rum und erforschte die unt e ren Schubladen. Vater hatte sich im Laufe seiner Moskauer Zeit etliche Fellmü t zen zugelegt, mit denen ich Oskar, den Nachbarjungen, als Russen verkleidete. Großmutter nannte die Dinger B ä renfotzen.
Im oberen Teil des Schranks stapelten sich Pappschachteln mit Plastehasen, Holzeiern, Weihnachtskugeln und Lametta vor der gehei m nisvollen Kiste. Sie war so groß wie ein Westpaket von Tante Helene aus Göttingen und stand in der hintersten Ecke. Aus Großvater war nichts rauszukriegen. Er starrte mich an wie ein Geiste s kranker. Wenn man die falschen Fragen stellte, machte er die Leiche, den Killer oder den Irren. Er war verdammt gut im Ve r stellen. Ich übte auch das vor dem Spiegel, genauso wie den KZ-Gang, aber ich kam nicht an Großvater ran.
Großmutter reagierte gereizt: »Da jehste mir nich ran, haste jehört? Dit is nüscht für dich!« »Is nüscht für dich, is nüscht für dich«, äffte ich sie nach.
An einem Sommertag war die Kiste fällig. Wilma würde heute spät nach Ha u se kommen, und Gustav war nach Rüdersdorf ins Zementwerk gefahren. Zusa m men mit meiner besten Freundin Paula hievte ich die schwere Leiter aus dem Keller. Wir waren gerade neun, und Paula war mit ihren Eltern aus dem Pren z lauer Berg nach Blankenburg gezogen. Ich hatte Paula als beste Freundin genommen, weil sie aus der I n nenstadt kam, also vom Leben mehr wußte als ich.
Wir wühlten uns durch die Oster- und Weihnachtskisten durch bis zum »Westpaket«. Vorsichtig trug ich es die Le i ter runter und hob den Deckel an. Im Paket lag eine zerschlissene Schlafa n zugjacke aus Leinen. Blau-weiß gestreift, sorgfältig zusammeng e legt, steif vor Schmutz. Unterhalb des Kragens, in Höhe der Brusttasche, war ein Stück Stoff aufgenäht. Darauf war ein rotes Dreieck g e malt, neben dem in schwarzen Zahlen eine Nummer stand: 26004. Ich guckte gebannt auf die dreckige Jacke. Mann, war das peinlich! Natürlich hatte ich g e hofft, in der Kiste tütenweise Har i bo-Gummibärchen, Lux-Seife oder wenigstens Dallmayer-Kaffee zu fi n den. Stattdessen hielt ich einen alten
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